Sie mußte sie zurücklassen. Welches Schicksal sie auch beim Betreten des Maelmords erwartete, ihre Gefährten sollten es nicht teilen. »Du eilst deinem Tod entgegen, Brin von Shannara, hatte der Finsterweiher sie gewarnt. Du trägst den Keim deiner Vernichtung bereits in dir.« Vielleicht traf das zu. Vielleicht lag dieser Keim in der Magie des Wünschliedes. Aber eines war gewiß. Die anderen, die mit ihr reisten, hatten ihr Leben bereits oft genug für sie aufs Spiel gesetzt. Sie wollte das nicht wieder zulassen.
Sie dachte die ganze Nacht darüber nach, als sie sich müde durch das Tiefland schleppte, und die Erinnerung drängte sich ihr auf, was sie bei der Anwendung des Wünschliedes empfunden hatte. Die Stunden verstrichen, und die Werbestien kamen in dieser Nacht nicht wieder, um sie heimzusuchen. Doch im Innern des Talmädchens spukten Dämonen anderer Art.
Gegen Tagesanbruch hatte die kleine Gruppe das Altmoor hinter sich gebracht und stand auf den auslaufenden Hügeln des südlichen Rabenhorns. Erschöpft vom langen Marsch vom Kamin und den Ereignissen der vergangenen Nacht und voller Bedenken, bei Tag, wo sie leicht gesehen werden konnten, weiterzuziehen, suchten die fünf Zuflucht in einem kleinen Kiefernhain zwischen zwei Bergkämmen und schliefen ein.
Mit Einbruch der Nacht setzten sie ihre Wanderung fort, marschierten nun ostwärts und folgten der hohen Bergwand, wo diese ans Moor grenzte. Nebelschwaden zogen zwischen den Bäumen der bewaldeten unteren Hänge dahin und spannten sich wie ein Spinnennetz über den Weg, als die Reisenden lautlos vorübergingen. Die Gipfel des Rabenhorns waren mächtig, und finsteres, kahles Gestein hob sich aus dem Waldland, um sich scharf gegen den Himmel abzuzeichnen. Es war eine menschenleere, stille Nacht, und das ganze Gebiet ringsum schien bar allen Lebens. Schatten lagen über den Felswänden, Wäldern und den tiefen Moornebeln. Nichts rührte sich in der zunehmenden Dunkelheit.
Um Mitternacht legten sie eine Rast ein, doch es war eine ungemütliche Pause, da sie unwillkürlich in die Stille lauschten, während sie sich die schmerzenden Muskeln rieben und ihre Stiefel neu schnürten. Das war der Augenblick, da Cogline beschloß, von seiner Zauberkraft zu erzählen.
»Das ist auch Zauberei«, flüsterte er Brin und Rone vorsichtig zu, fast als fürchte er, jemand könnte sie belauschen. »Andere Zauberei als jene, über welche die Wandler verfügen — sie entstammt nicht ihrer Zeit und nicht jener, da die Elfen und Feenvölker die Macht innehatten, sondern sie hat ihren Ursprung aus der Zeit dazwischen!«
Er beugte sich mit scharfem, anklagendem Blick vor. »Dachtest wohl, ich wüßte nichts von dieser Zeit, was, Mädchen?« fragte er Brin. »Nun, ich kenne die Geschichte jener Zeiten — ist mir von meinen Vorfahren überliefert worden. Keine Druiden, nein. Aber Lehrmeister, Mädchen — Lehrmeister! Sie besaßen das Wissen der Welt, als die Großen Kriege die völlige Zerstörung über die Menschheit brachten!«
»Großvater!« mahnte Kimber Boh liebevoll. »Erkläre es ihnen doch einfach!«
»Hm!« Cogline grunzte gereizt. »Erkläre es, sagt sie! Was glaubst du eigentlich, was ich gerade mache, Mädchen?« Er zog die Stirn kraus. »Erdkraft! Das ist die Magie, die ich beherrsche! Nicht die Magie der Worte und Zaubersprüche — nein, die nicht! Macht, die den Elementen entstammt, aus denen sich der Grund und Boden zusammensetzt, über den wir gehen, Ausländer. Das ist Erdkraft. Fetzchen und Stückchen von Erzen und Pülverchen und Mixturen, die sich mit dem Auge sehen und mit den Händen fühlen lassen. Chemikalien wurden sie früher einmal genannt. Sie sind aus einer ganz anderen Art von Geschicklichkeit entstanden als aus den einfachen Fähigkeiten, wie wir sie jetzt in den Vier Ländern zur Anwendung bringen. Das meiste Wissen verging mit der alten Welt. Aber ein bißchen — nur ein kleines bißchen — ist herübergerettet worden. Und das wende ich nun an.«
»Tragt Ihr dazu diese Beutel mit euch?« erkundigte sich Rone. »Habt Ihr damit die Feuer zur Explosion gebracht?«
»Hihi!« Cogline lachte leise. »Das kann es und noch vieles mehr, Südländer. Feuer können zu Explosionen entfacht und Erde in Schlamm verwandelt werden, Luft in erstickenden Staub und lebendiges Fleisch in Stein! Ich habe Mixturen für das alles und Dutzende mehr. Mischen und wägen, ein bißchen hiervon, ein bißchen davon!« Er lachte wieder. »Ich werde den Wandlern Macht vorführen, wie sie dergleichen noch nicht erlebt haben!«
Rone schüttelte voller Zweifel den Kopf. »Spinnengnomen sind eine Sache, die Mordgeister wieder eine ganz andere. Sie deuten mit dem Finger auf einen, und man zerfällt zu Asche. Das Schwert, das ich bei mir trage, das von Druidenmacht erfüllt ist, stellt den einzigen Schutz gegen diese Wesen der Finsternis dar.«
»Bah!« stieß Cogline hervor. »Verlaßt euch nur auf meinen Schutz — du und das Mädchen!«
Rone wollte eine scharfe Erwiderung äußern, besann sich dann aber anders und zuckte nur mit den Schultern. »Wenn wir auf die Wandler stoßen, werden wir beide Brin allen Schutz geben müssen, den wir zu bieten haben.«
Er suchte zur Bestätigung die Augen des Mädchens, und sie lächelte zustimmend. Es kostete sie schließlich nichts. Sie wußte allerdings schon, daß in jedem Fall keiner von beiden in ihrer Nähe wäre.
Sie dachte eine Weile über das nach, was Cogline ihnen erzählt hatte. Es beunruhigte sie, daß irgendein Teil der alten Wissenschaften die Katastrophe der Großen Kriege überdauert haben sollte. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, daß jene schreckliche Macht wieder auf der Erde auftauchen sollte. Es war schlimm genug, daß die Magie der Feenwelt durch die irregeleiteten Anstrengungen jener Handvoll abtrünniger Druiden bei den Ratssitzungen von Paranor wiedererweckt worden war. Aber sich mit der Aussicht konfrontiert zu sehen, das Wissen von Kräften und Energien könnte weiterentwickelt werden, war noch beunruhigender. Fast alle Lernprozesse, die zu jenem Wissen geführt hatten, waren mit der Zerstörung der alten Welt verlorengegangen. Das wenige, das überdauert hatte, war von den Druiden wieder weggeschlossen worden. Und dann war da dieser alte Mann — halb verrückt und so wild wie die Wildnis, in der er zu Hause war, und besaß zumindest einen Teil dieser Gelehrsamkeit — eine besondere Art von Zauberkraft, die er als seine eigene beanspruchte.
Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht war es unvermeidlich, daß alle Erkenntnisse, ob in guter oder böser Absicht gewonnen, ob zur Erhaltung oder zur Vernichtung von Leben eingesetzt, irgendwann ans Tageslicht kommen müssen. Vielleicht stimmte das gleichermaßen für Wissenschaft und Magie — die eine der Welt der Menschen, die andere der Welt der Feenwesen entstammend. Vielleicht mußten beide im Strom der Zeit in regelmäßigen Abständen an die Oberfläche stoßen, dann wieder untergehen, später erneut auftauchen und ewig so fort.
Aber ausgerechnet jetzt eine Rückkehr des Wissens um Energie und Kraft, da der letzte der Druiden gestorben war... ?
Allerdings war Cogline auch ein alter Mann und sein Wissen beschränkt. Wenn er starb, verginge sein Wissen möglicherweise mit ihm und wäre dahin — zumindest für eine gewisse Zeit.