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Keiner sprach während des Aufstiegs ein Wort. Statt dessen lauschten sie auf Geräusche des Gegners, der sie irgendwo dort oben erwarten mußte — die Wandler und die Wesen, die ihnen dienten. Sie hörten nichts von ihnen, aber da waren andere Laute, die durch die leeren Gänge hallten — Laute, die von weit oben kamen und nicht sogleich zu deuten waren. Da erklang Poltern und Dröhnen, als wären schwere Körper gefallen, Scharren und Kratzen und ein leises Heulen, als pfiffe ein heftiger Wind von den Berggipfeln durch die Tunnel, und ein Zischen, als entwiche einem Spalt in der Erde Dampf. Diese entfernten Geräusche erfüllten und betonten gleichermaßen die ansonsten völlige Stille der Abwasserschächte. Brin beobachtete sich selbst dabei, wie sie eine Erklärung für die Geräusche suchte, doch es gab keine — außer vielleicht für das Zischen, das mit besonderer Regelmäßigkeit lauter und leiser wurde. Es erinnerte Brin unangenehm an das Aufsteigen des Finsterweihers aus dem Teich und dem Nebel.

Ich muß eine Möglichkeit finden, den Weg allein fortzusetzen, dachte sie wieder einmal. Ich muß es bald schaffen.

Tunnels kamen und gingen und führten weiter bergauf. Die Luft innerhalb der Tunnel wurde im Lauf des Tages immer wärmer, und die Mitglieder der kleinen Gruppe schwitzten reichlich unter ihren Mänteln und Blusen. Eine besondere Art von Dunst sickerte nun die Korridore herab, klebrig und schmierig und gesättigt mit dem Gestank der Abwässer. Sie wedelten ihn angeekelt fort, doch er zog hinter ihnen her, schloß sich um sie und wollte sich nicht verscheuchen lassen. Je höher sie stiegen, um so dichter wurde er, und bald hatten sie Schwierigkeiten, weiter als zehn Meter voraus zu sehen.

Dann plötzlich lichteten sich Nebel und Zwielicht vor ihnen, und sie standen auf einer Felsplatte, die über einen riesigen Abgrund hinausragte. Die Schlucht fiel geradewegs ins Innerste des Gebirges hinab und verlor sich in völliger Schwärze. Die Mitglieder der kleinen Gruppe warfen einander unbehagliche Blicke zu. Zu ihrer Rechten führte der Gang weiter in die Felsen hinauf und folgte dem Graben, der die Abwässer der Mordgeister-Zitadelle hinableitete. Zu ihrer Linken führte der Weg ein kurzes Stück bergab zu einer schlanken Felsbrücke, die sich mit kaum einem Meter Breite über den Abgrund zu einem finsteren Tunnel in der gegenüberliegenden Felswand spannte.

»Welchen Weg nehmen wir nun?« murmelte Rone leise, fast als stellte er diese Frage sich selbst.

Nach links, dachte Brin sofort. Nach links über die Schlucht. Sie verstand nicht, warum, aber sie wußte instinktiv, daß das der Weg war, den sie einschlagen mußte.

»Wir müssen uns an die Abwasserkanäle halten.« Cogline schaute sie an. »Das hat der Finsterweiher doch gesagt, oder?«

Brin war nicht in der Lage zu sprechen. »Brin?« rief Kimber ihr leise zu.

»Ja«, erwiderte sie schließlich. »Ja, an sie müssen wir uns halten.«

Sie bogen nach rechts über das Felssims und folgten ihm höher hinauf an dem Abwasserkanal entlang und schleppten sich wieder in die Dunkelheit. Brins Gedanken rasten. Das ist die falsche Richtung, dachte sie. Warum habe ich das Gegenteil behauptet? Sie schnappte nach Luft und zwang sich, ruhiger zu denken. Sie wollte den Weg zurückgehen, zurück über die Steinbrücke. Dort hinten lag der Maelmord — sie konnte es fühlen. Warum aber hatte sie dann...?

Sie riß sich schnell zusammen, denn die Frage beantwortete sich fast ebenso schnell, wie sie sich stellte. Weil hier der rechte Moment war, die anderen zurückzulassen. Das war die Gelegenheit, auf die sie seit dem Altmoor gewartet hatte. So mußte es sein. Das Wünschlied würde ihr helfen — eine kleine Täuschung, eine unbedeutende Lüge. Sie sog scharf den Atem ein, als sie daran dachte. Sie mußte es tun, auch wenn sie damit das Vertrauen verriet, das die anderen in sie setzten.

Leise und vorsichtig begann sie zu summen, baute das Wünschlied Stein für Stein zu einer Mauer auf, welche die Sicht versperrte, und schuf an ihrer Stelle in der Vorstellung ihrer Gefährten ein Bild von sich. Dann löste sie sich unvermittelt von ihrem Geist, preßte sich an die Wand des Ganges und sah zu, wie die anderen weitergingen.

Das Trugbild würde nur ein paar Minuten anhalten, wie sie wußte. Sie rannte durch den Abflußkanal zurück und folgte den Windungen und Biegungen des Felsgesteins. Der eigene Atem klang ihr lärmend in den Ohren. Sie erreichte die Felsplatte, eilte auf die Stelle zu, wo sie sich verschmälerte, und bog auf die Steinbrücke. Vor ihr gähnte ein schwarzer Abgrund. Einen Schritt nach dem anderen schob sie sich auf den Übergang zu und schaffte den Weg hinüber. In der Dunkelheit und dem Nebel, die sie umkreisten, herrschte Stille, doch sie hatte irgendwie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie stählte ihren Willen gegen die kurze Woge von Furcht und Zweifeln und zog sich leidenschaftslos und ungerührt tief in ihr Innerstes zurück. Sie durfte nicht zulassen, daß irgend etwas sie berührte.

Endlich hatte sie die Brücke überquert. Sie blieb einen Augenblick im Eingang dieses neuen Tunnels stehen und ließ das Gefühl zurückkehren. Ein knapper Gedanke an Rone und die anderen schoß ihr durch den Kopf und war wieder fort. Nun hatte sie das Wünschlied auch gegen sie angewandt, dachte sie verbittert. Und obgleich es notwendig gewesen sein mochte, schmerzte es sie zutiefst, es getan zu haben.

Dann wirbelte sie abrupt zu der Steinbrücke herum, ließ das Wünschlied zu einem schrillen Kreischen anschwellen und sang. Der Klang hallte wie rasend durch die Finsternis, die Brücke zersprang in Stücke und stürzte in die Schlucht hinab.

Nun gab es keinen Weg zurück.

Sie wandte sich dem Tunnel zu und verschwand.

Der schrille Laut drang in den Abwasserkanal, wo die anderen der kleinen Gruppe sich immer noch durch die Finsternis schleppten.

»Gütige Geister! Was war das?« rief Rone.

Als das Echo erstarb, trat ein Augenblick der Stille ein. »Brin... das war Brin«, antwortete Kimber flüsternd.

Rohe schaute sich um. Nein, Brin befand sich neben ihm...

Unvermittelt löste sich das Bild, welches das Talmädchen in ihren Vorstellungen geschaffen hatte, in Nichts auf. Cogline fluchte leise und stampfte mit dem Fuß auf.

»Was hat sie getan...?« stammelte der Hochländer verwirrt und konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen.

Kimber stand mit angespanntem Gesicht neben ihm. »Sie hat getan, was sie von Anbeginn an vorgehabt hat, denke ich, sie hat uns abgehängt und ist allein weitergezogen. Sie sagte schon vorher, daß sie nicht wollte, daß einer von uns sie begleitete; nun hat sie dafür gesorgt, daß wir es nicht mehr können.«

»Um der Katze willen!« Rone war entsetzt. »Begreift sie denn nicht, wie gefährlich...«

»Sie begreift alles«, fiel das Mädchen ihm ins Wort und schob sich an ihm vorbei zum Tunneleingang. »Ich hätte früher wissen müssen, daß sie das tun würde. Wir müssen uns beeilen, wenn wir sie noch einholen wollen. Wisper, such!«

Die große Moorkatze sprang mühelos voraus und trabte den Tunnel entlang zurück in die Dunkelheit. Die drei Menschen huschten hinterdrein und rutschten und stolperten dabei durch Nebel und Finsternis. Rone Leah war gleichzeitig wütend und besorgt. Warum sollte Brin das tun? Er verstand es nicht.

Dann standen sie plötzlich wieder auf der Felsplatte und starrten über den Abgrund, wo die Brücke in der Mitte auseinandergebrochen war und ins Dunkel führte.

»Da, seht ihr, sie hat die Magie angewendet!« fauchte Cogline.

Wortlos rannte Rone weiter und trat auf den gezackten Überrest der Brücke. Sechs Meter entfernt ragte das andere Ende aus der Felswand. Er könnte den Sprung schaffen, dachte er plötzlich. Es war eine große Entfernung, aber er könnte es schaffen. Zumindest mußte er es versuchen...

»Nein, Rone Leah!« Kimber zerrte ihn vom Abgrund zurück, da sie sofort seine Absichten durchschaute. »Sei nicht töricht. So weit kannst du nicht springen.«

»Ich kann sie nicht wieder im Stich lassen«, erklärte er halsstarrig.

»Nicht noch einmal.«