Das Mädchen nickte ernst. »Mir liegt auch viel an ihr.« Sie drehte sich um. »Wisper!« Die Moorkatze tappte auf sie zu und rieb ihr Gesicht mit den Schnurrhaaren gegen das ihre. Liebevoll sprach sie auf den Kater ein und kraulte ihn hinter den Ohren. Dann trat sie zurück. »Such, Wisper!« befahl sie.
Die Moorkatze wirbelte herum, schoß auf die Brücke zu, duckte sich und sprang durch die Luft. Wisper überwand die Kluft mühelos, landete auf der anderen Seite der zerstörten Brücke und verschwand in dem dunklen Tunnel dahinter.
Sorge zeichnete Kimber Bohs junges Gesicht. Sie hatte sich nicht von dem Kater trennen wollen, aber Brin brauchte ihn vielleicht dringender als sie, und das Mädchen aus Shady Vale war ihre Freundin. »Paßt gut auf euch auf!« flüsterte sie ihm hinterdrein.
Dann sah sie wieder Rone an. »Nun laßt uns ebenfalls einen Weg suchen, wie wir zu Brin Ohmsford gelangen können.«
39
Es war gegen Mittag des gleichen Tages, als Jair und seine Begleiter wieder aus den Höhlen der Nacht auftauchten und sich auf einem breiten Felssims oberhalb einer tiefen Schlucht zwischen den Gipfeln des Rabenhorns befanden, die so nahe vor ihnen aufragten, daß sie alles bis auf einen schmalen Streifen blauen Himmels weit über dem Standort der Gruppe, wo alles in Schatten unterging, verdunkelten. Das Sims verlief mehrere hundert Meter am Berg entlang und verschwand dann in einem Einschnitt in der Felswand.
Der Talbewohner schaute erschöpft nach oben, und sein Blick folgte dem Anstieg der Berge in einen mittäglichen Himmel. Er war müde — körperlich und psychisch ausgezehrt. Er hielt den Sehkristall noch immer mit einer Hand umklammert, und die herabbaumelnde Silberkette klirrte auf dem Stein. Seit Sonnenaufgang hatten sie sich in den Höhlen aufgehalten. Die meiste Zeit über hatte er das Wünschlied einsetzen müssen, um das Licht des Kristalls zu erhalten, damit sie ihren Weg finden konnten. Es hatte ihn das letzte Quentchen Kraft und jedes Fetzchen Konzentration gekostet, die er aufbieten konnte, das zu schaffen. Im Geiste vernahm er immer noch die Geräusche der Procks, das Knirschen von Stein auf Stein, das nur noch davon flüsterte, was sie in den Höhlen zurückgelassen hatten. Und er hörte noch immer den letzten Schrei von Stythys.
»Stehen wir hier nicht herum, wo man uns so leicht sehen kann«, mahnte Garet Jax leise und winkte ihn nach links.
Spinkser trat zu ihnen und blickte sich voller Zweifel um. »Ich bin nicht überzeugt, daß das der richtige Weg ist, Waffenmeister.«
Garet Jax- drehte sich nicht um. »Wieviel andere Wege seht Ihr denn?«
Schweigsam schoben sich die Mitglieder der kleinen Gruppe auf dem Felssims zu dem Einschnitt in der Bergwand hinab. Ein schmaler Engpaß erstreckte sich vor ihnen, wand sich ins Gestein und verschwand in der Dunkelheit. Sie durchwanderten ihn im Gänsemarsch und warfen dabei immer wieder wachsame Blicke an den rauhen Wänden empor. Ein eisiger Windhauch wehte ihnen von den Berghöhen herab entgegen. Jair schauderte unter der Berührung. Doch nach den lähmenden Schrecknissen der Höhlen war ihm sogar dieses unangenehme Gefühl willkommen. Er konnte spüren, daß sie sich nun nicht weit von den Mauern von Graumark befanden. Graumark, der Maelmord und der Himmelsbrunnen — sie waren nun alle in unmittelbarer Nähe. Seine Suche war bald zu Ende, die lange Reise geschafft. Er empfand ein eigentümliches Bedürfnis, gleichzeitig zu weinen und zu lachen, doch seine Erschöpfung und die Schmerzen in seinem Körper ließen keines von beidem zu.
Der Engpaß führte immer weiter in den Fels. Jairs Gedanken schweiften umher. Wo war Brin? Der Kristall hatte ihnen ihr Gesicht gezeigt. Er hatte jedoch nichts darüber verraten, wo sie sich befand. Von grauem Nebel und Düsternis war sie in einer trostlosen, verlassenen Gegend umgeben. Vielleicht ein ähnlicher Durchgang wie der ihre? Befand auch sie sich in diesem Gebirge?
»Du mußt den Himmelsbrunnen erreichen, ehe deine Schwester den Maelmord betritt«, hatte der König vom Silberfluß ihn gewarnt. »Du mußt dort sein, um ihr zu helfen.«
Er stolperte und wäre beinahe gefallen, als seine Aufmerksamkeit von der direkt bevorstehenden Aufgabe in Anspruch genommen wurde. Er richtete sich hastig wieder auf und schob die Kristallkugel in sein Hemd zurück.
»Paß auf«, flüsterte Edain Elessedil neben ihm. Jair nickte und ging weiter.
Vorahnungen stiegen in ihm auf. Eine ganze Gnomen-Armee bewachte die Zinnen und Türme von Graumark. Mordgeister wanderten durch seine Hallen. Möglicherweise lagen noch finsterere Wesen auf der Lauer, die gegen solche Eindringlinge wie sie Wache hielten. Sie waren nur zu sechst. Welche Chance hatten sie gegen so viele und solche Macht? Geringe, sollte man meinen; und hätte die Aufgabe dem Talbewohner auch völlig aussichtslos erscheinen müssen, tat sie das doch nicht. Vielleicht war es die Zuversicht, die der König vom Silberfluß damit zum Ausdruck gebracht hatte, daß er ihn zu seiner Mission erwählte — ein Beweis für den Glauben des alten Mannes, daß Jair in der Lage wäre, einen Weg zum Erfolg zu finden. Vielleicht war es auch seine eigene Entschlossenheit, seine Willensstärke, die nicht zulassen würde, daß er scheiterte.
Er schüttelte sachte den Kopf. Vielleicht. Aber es^war auch das Wesen der fünf Männer, die sich entschlossen hatten, ihn zu begleiten, und die ihm Beistand leisteten. Es lag an Garet Jax, Spinkser, Foraker, Edain Elessedil und Helt — die aus allen Vier Ländern zu diesem letzten, schrecklichen Kampf zu einer rätselhaften Mischung von Kraft und Mut zusammengekommen waren. Zwei Fährtensucher, ein Jäger, ein Waffenmeister und ein Elfenprinz hatten die unterschiedlichsten Lebenswege hinter sich gebracht, um an diesem Tag dabeizusein, und vielleicht würde kein einziger sein Ende miterleben. Aber da waren sie. Ihre Bindung an Jair und das Vertrauen, das ihm geschenkt worden war, überstiegen Vorsicht und Vernunft, die sie ansonsten vielleicht veranlaßt hätten, der offenkundigen Gefahr für ihr Leben mehr Beachtung zu schenken. Das galt sogar für Spinkser. Der Gnom hatte sich auf Capaal entschieden, als er seine Gelegenheit, nach Norden ins Grenzland zu flüchten und sein altes Leben wieder aufzunehmen, nicht wahrgenommen hatte. Sie alle fühlten sich verpflichtet, und in dieser Verpflichtung lag die Einigkeit, die fast unüberwindlich schien. Jair wußte wenig von seinen Gefährten. Doch eines wußte er mit Sicherheit, und das genügte: Was immer ihm an diesem Tag widerfahren sollte, die anderen würden ihm beistehen.
Vielleicht war das der Grund, daß er keine Angst hatte.
Der Hohlweg vor ihnen wurde wieder breiter, und Sonnenschein ergoß sich von einem neuen, verbreiterten Himmelsstreifen. Garet Jax verlangsamte seinen Schritt, bückte sich wieder und schlich weiter. Ein magerer Arm winkte die anderen hinter sich. An den Felsen geduckt krochen sie weiter, bis sie sich auf seiner Höhe befanden.
»Da!« flüsterte er und deutete nach oben.
Es war Graumark. Jair wußte es sofort, ohne daß man es ihm hätte sagen müssen. Die Festung lag hoch auf der Oberfläche einer Klippe, die im Bogen von ihnen wegführte. Sie war auf einem breiten Felssims errichtet, das weit in den mittäglichen Himmel hinausragte. Es war ein finsterer, massiger Bau. Zinnen, Türme und Wehrgänge, die wie Stacheln und stumpfe Axtköpfe in das wolkenlose Blau stießen, erhoben sich auf Steinquadermauern in mehr als hundert Metern Höhe. Keine Wimpel flatterten von den Turmpfosten; keine Flaggen zierten die Fensterflügel. Die ganze Festung wirkte öde und grau, selbst im strahlenden Sonnenschein; der Stein war von stumpfem, aschgrauem Ton. Die wenigen Fenster waren schmale, enge Öffnungen mit Gittern und hölzernen Läden davor. Ein einziger, schmaler Weg wand sich an der Bergwand empor — kaum mehr als ein ins Gestein gemeißeltes Sims — und endete an einem hohen, eisenbeschlagenen Flügeltor vor dem Gebäudekomplex. Das Tor war verschlossen.
Sie musterten schweigend die Festung. Nirgendwo ließ sich jemand sehen. Nichts regte sich.
Dann erblickte Jair den Croagh. Er konnte nur Teile des zerklüfteten Steinbogens sehen, der fast mit den Türmen und Wehrgängen des Bauwerks zu verschmelzen schien und sich hinter Graumark erhob. Er wand sich wie eine Freitreppe um sich selbst und schraubte sich himmelwärts, bis er hoch auf einem einsamen Gipfel endete, der die anderen ringsum weit überragte.