Aber dann drang ein neues Geräusch an seine Ohren, das nicht von dem Kampf in Graumark stammte, sondern ganz aus der Nähe kam. Leise, flüchtige Schritte erklangen auf den Steinstufen des Croagh. Die Moorkatze hob den Kopf. Jemand kam herunter. Krallen scharrten über Stein. Wisper ließ den Kopf wieder sinken und schien mit dem Fels zu verschmelzen.
Die Sekunden verstrichen, dann tauchte ein Schatten auf. Wispers zusammengekniffene Augen nahmen die Bewegung wahr, und er blieb völlig bewegungslos liegen. Eines der schwarzen Wesen schlich die Stufen des Croagh nach unten — eines wie jene, gegen die er in den Berghöhlen gekämpft hatte. Es glitt den steinernen Pfad herab, tote Augen starrten blicklos ins Leere. Es sah Wisper nicht. Die Moorkatze wartete.
Als dann das Ungeheuer keine sechs Schritte mehr von der Stelle entfernt war, wo Wisper sich duckte, sprang er. Er prallte gegen das Wesen, ehe das auch nur begriff, daß er da war, und bewegte sich dabei so schnell, daß er nur verschwommen wahrzunehmen war. Mit rudernden Armen stürzte die Kreatur vom Croagh, um wie ein Stein ins Tal hinabzufallen. Wisper beobachtete vorn Rand der langen Treppenspirale aus den Absturz des Wesens. Als es aufschlug, vibrierte der ganze Wald ringsum von wie rasend umherfliegenden Ästen und belaubten Ranken. Es erinnerte unangenehm an eine Kehle, die etwas verschlang. Endlich wurde er wieder still.
Wisper wandte sich vom Croagh ab, die Ohren angelegt in einer Mischung von Angst und Haß. Der Geruch des dampfenden Dschungels stieg in die Nüstern des Katers, und er hustete und fauchte voller Abscheu. Er trottete auf das Felssims zurück.
Dann ließ ein neues Geräusch ihn mit leisem Fauchen herumfahren. Auf dem Croagh über ihm standen weitere, dunkle Gestalten — noch zwei von den schwarzen Wesen, und hinter ihnen eine hohe, verhüllte und mit Kapuze bekleidete Person. Wispers blaue Kulleraugen blinzelten und verengten sich zu Schlitzen. Es war zu spät, sich zu verstecken. Sie hatten ihn bereits gesehen.
Lautlos ging er ihnen entgegen, die dunklen Lefzen weit über blitzenden Zähnen gefletscht.
Jair Ohmsford und seine Gefährten liefen nun durch Schatten und Zwielicht tief im Innern der Feste Graumark. Sie rannten Gänge hinab, in denen schwer der Gestank von Moder und Abwässern hing, Korridore mit verrosteten Eisentüren und bröckeligem Stein, durch Gewölbe, in denen ihre Schritte widerhallten, und über ausgetretene, verfallene Treppen. Die Burg von Graumark war ein dahinsiechender Bau, hinfällig von Alter und Unbewohntheit, und modrig vom Zerfall. Nichts, was hier lebte, ließ anderes Leben zu; die hier herrschten, genossen nur den Tod.
Und sie verlangen nach meinem Tod, dachte Jair beim Laufen, während seine Wunde schmerzhaft pochte. Das Haus will mich verschlingen und sich einverleiben.
Vor ihm schoß die dunkle Gestalt von Garet Jax wie ein lockendes Gespenst weiter. Die Dunkelheit um sie her lag leer, still und erwartungsvoll. Die Gnomen hatten sie abgeschüttelt; die Mordgeister waren noch nicht aufgetaucht. Der Talbewohner kämpfte die Furcht nieder, die ihn durchflutete. Wo waren die Geister? Warum hatten sie sie noch nicht zu Gesicht bekommen? Sie waren hier in der Burg, lagen irgendwo innerhalb dieser Mauern verborgen, jene Wesen, die Psyche und Körper vernichten konnten. Sie waren hier und mußten unweigerlich kommen.
Aber wo steckten sie?
Er stolperte, fiel auf Spinkser und wäre fast zu Boden gestürzt. Doch der Gnom fing ihn, indem er rasch einen kräftigen Arm um ihn schlang. »Paß auf, wo du hintrittst!« schrie Spinkser.
Jair biß die Zähne zusammen, als der Schmerz von seiner Schulter ausstrahlte. »Es tut weh, Spinkser. Jeder Schritt...»
Das kräftige Gesicht des Gnomen wandte sich von ihm ab. »Solange du Schmerzen spürst, weißt du, daß du noch am Leben bist, Junge. Nun lauf!«
Jair Ohmsford rannte. Sie rasten einen gewundenen Gang hinab, und vor ihnen erklang der Lärm anderer Laufschritte und rufender Stimmen. Gnomen hatten einen anderen Weg genommen und suchten nach ihnen.
»Waffenmeister!« warnte Spinkser dringend, und Garet Jax kam schlitternd zum Stehen. Der Gnom winkte sie in eine Nische, wo eine kleine Tür in ein schmales Treppenhaus führte, das nach oben ins Dunkel mündete.
»Dort können wir über ihnen hinwegschleichen«, keuchte Spinkser und lehnte sich erschöpft an die Steinquader der Mauer. »Aber laßt den Jungen einen Augenblick Kräfte sammeln.«
Er öffnete rasch seine Bierflasche und setzte ihm das Mundstück an die Lippen. Jair trank dankbar in großen Zügen. Das bittere Gebräu durchströmte ihn heiß; es schien fast augenblicklich seine Schmerzen zu lindern. Er lehnte sich zu dem Gnomen an die Mauer zurück und beobachtete, wie Garet Jax weiter die Treppe hinaufschlich, um die Finsternis über ihnen zu erkunden. Hinter ihnen standen Foraker und Edain Elessedil am Zugang zum Treppenschacht Wache und kauerten sich dazu tief in die Dunkelheit.
»Besser jetzt?« fragte Spinkser ihn knapp.
»Besser.«
»Wie damals in den Schwarzen Eichen, was? Nachdem Spilk dich durchgeprügelt hatte?«
»Wie damals.« Jair lächelte bei der Erinnerung. »Hilft gegen alles, dieses Gnomenbier.«
Der Gnom lachte bitter. »Alles? Nein, Junge — nicht gegen das, was die Wandler mit uns anstellen werden, wenn sie uns erwischen. Dagegen nicht. Die sind hinter uns her, weißt du — wie damals in den Schwarzen Eichen. Tauchen als lautlose, schwarze Wesen aus der Finsternis auf. Ich kann sie riechen.«
»Das ist nur der Gestank der ganzen Festung, Spinkser.«
Der Gnom ließ den groben Kopf sinken, als hätte er ihn nicht gehört. »Helt — einfach tot. Hätte nicht gedacht, daß wir einen so kräftigen Mann so schnell verlieren würden. Grenzländer sind ein harter Schlag; und Spurensucher noch härter. Hätte nicht gedacht, daß es so schnell mit ihm geht.«
Jair schluckte. »Ich weiß. Aber wir übrigen werden es schaffen, Spinkser. Die Gnomen sind hinter uns. Wir kommen durch, wie wir bisher auch durchgekommen sind.«
Spinkser schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Junge, diesmal werden wir nicht durchkommen. Diesmal nicht.« Er stieß sich von der Wand ab, seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Wir werden alle tot sein, ehe es vollbracht ist.«
Er zerrte den Talbewohner derb hinter sich her, winkte rasch Foraker und Edain Elessedil zu und begann, die Treppe zu erklimmen. Der Zwerg und der Elf folgten ihm sogleich. Ein paar Dutzend Stufen höher holten sie Garet Jax ein, und gemeinsam stiegen- die fünf weiter hinauf in die Dunkelheit. Schritt für Schritt gingen sie ihren Weg, nur geleitet durch einen winzigen Lichtschimmer irgendwo oben. Das Innere von Graumark war wie eine Gruft, die sie nicht mehr freigeben wollte. Jair verharrte einen Augenblick lang bei diesem Gedanken und war sich kläglich seiner eigenen Sterblichkeit bewußt. Er könnte ebenso leicht umkommen wie Helt. Es stand nicht fest, wie er einst geglaubt hatte, daß er das Ende des ganzen Unternehmens noch erleben würde.
Dann verdrängte er diese Vorstellung. Wenn er nicht überlebte, wäre da niemand, der Brin helfen könnte. Es wäre ihrer beider Ende, denn ohne ihn bestand für sie keine Hoffnung. Folglich mußte er überleben, mußte eine Möglichkeit zum Überleben finden.
Der Treppenaufgang endete an einer kleinen Holztür mit einem vergitterten Fenster. Durch dieses hindurch sickerte das Tageslicht in die Dunkelheit, wo sie sich niederkauerten. Spinkser drückte sein derbes, gelbes Gesicht eng an die Gitterstäbe und spähte hinaus, um zu sehen, was sie draußen erwartete. Von irgendwo aus der Nähe erschallten die Schreie ihrer Verfolger.
»Werden wieder laufen müssen«, erklärte Spinkser über seine Schulter hinweg. »Geradeaus, durch die große Halle. Bleibt dicht zusammen!«
Er riß die hölzerne Tür auf, und sie stürzten sich in das Tageslicht dahinter. Sie befanden sich in einem langen, hohen, mit Dachsparren verzierten Gang mit schmalen Bogenfenstern über seiner ganzen Länge. Spinkser führte sie nach links vorbei an in Dunkelheit getauchten Nischen und Türrahmen, verrosteten Rüstungen auf Sockeln und an den Steinwänden angebrachten Waffensammlungen.