Dann führte Spinkser sie durch eine Tür in einen anderen Saal und lief ihn eilends hinab. Wieder erklangen Schreie der Verfolger* diesmal vereinzelt und fern aus der Richtung, aus der sie geflohen waren. Jair lief schweigsam neben Spinkser her und zwang sich, nicht zurückzuschauen.
Der Gang, den sie entlangrannten, endete an einer Art Torbogen. Sie traten hinaus ins graue, dunstige Tageslicht, und die Mauern der Burg lagen hinter ihnen. Vor ihnen dehnte sich ein weiter Hof bis zu einem Geländer. Dahinter fielen Felswände und die Festungsmauern in ein Tal hinab; aus dem Tal schlängelte sich ein einziger, in den Fels gehauener Steig hinauf und am Hof vorbei. Hoch und höher wand er sich hinauf, um schließlich weit oben um eine einsame Bergspitze zu führen.
Der Croagh mit dem Himmelsbrunnen auf dem Gipfel.
Die drei, die von der kleinen Gruppe von Culhaven noch übriggeblieben waren, hasteten nach vorn zu der Stelle, wo die Treppe an den Hof grenzte und machten sich an den Aufstieg.
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Hunderte von Stufen zogen unter Brins Füßen dahin, als sie die Steintreppe des Croagh in den Maelmord hinabstieg. Das schlanke Felsband zog sich in großen Schleifen von den bleiernen Türmen Graumarks in den Nebel und die dampfende Hitze des Dschungels unten hinab und bildete einen schmalen, schwindelerregenden Abstieg durch den Raum. Das Talmädchen beging es mit steifen Schritten, ihr Denken war getrübt von Furcht und Erschöpfung und gequält durch leise geraunte Zweifel. Eine Hand ruhte leicht auf dem steinernen Geländer, um das Gefühl einer gewissen Stütze zu haben. Im Westen sank die umwölkte Sonne langsam hinter die Berge.
Während ihres ganzen Abstiegs blieben ihre Augen auf die Grube unten geheftet. War der Maelmord anfänglich eine düstere, dunstige Masse gewesen, so wurde er nun mit jedem Schritt deutlicher umrissen. Langsam nahm das hier verwurzelte Leben Gestalt und Form an und zeichnete sich vom weiten Hintergrund des Tales ab. Die Bäume waren riesenhaft, gebeugt und altersgrau und irgendwie im Vergleich zu der Art, wie die Hand der Natur sie erschaffen hatte, entstellt. Zwischen ihnen wuchsen dicke Stengel von Unkraut und Gestrüpp zu unverhältnismäßiger Größe heran, und Ranken drehten und wanden sich um alles wie kopf- und schwanzlose Schlangen. Die Farbe dieses Dschungels war kein lebhaftes Frühlingsgrün, sondern ein stumpfes Grau, das die Tönung von etwas im Winter Erfrorenem trug.
Und doch war die Hitze unerträglich. Für Brin fühlte sich der Maelmord an, als ob an einem Tag im Hochsommer die Erde aufgerissen, das Gras braun verbrannt und alles Wasser an der Oberfläche zu Staub verdunstet war. Hier nahm der scheußliche Gestank der Abwasserkanäle seinen Anfang, stieg in ekelerregenden Wogen von Boden und Dschungelblattwerk auf, hing in der stillen Nachmittagsluft und sammelte sich wie vergorene Suppe in der Schale des Berggesteins. Anfänglich war er selbst mit Coglines Salbe, die noch dick an ihren Nasenflügeln hing, fast nicht auszuhalten, doch nach einer Weile nahm sie ihn nicht mehr so wahr, als ihr Geruchssinn zum Glück betäubt war. Auf diese Weise paßte sich auch ihre Körpertemperatur an. Hitze und Gestank waren nicht mehr ganz so unerträglich, und es blieb nur noch der öde, faulige Anblick der Grube, der sich nicht verdrängen ließ.
Da war auch noch das Zischen und das An- und Abschwellen des Laubwerks, als atmete ein Körper. Da war die Gewißheit, daß das gesamte Tal ein lebendiges Wesen darstellte, und trotz all seiner verschiedenen Teile, die zum Handeln, Denken und Fühlen fähig waren, ein einheitliches Ganzes. Und obgleich es keine Augen besaß, fühlte das Mädchen, wie es sie anschaute, beobachtete und abwartete.
Doch sie ging weiter. Einen Gedanken an Umkehr konnte es nicht geben. Eine lange, beschwerliche Reise hatte sie an diesen Ort und in diese Zeit geführt und viele Opfer gefordert. Sie hatte Menschenleben gekostet, und die Charaktere jener, die überlebt hatten, waren für immer verändert. Sie selbst war nicht mehr das Mädchen, das sie gewesen war, denn der Zauber hatte sie zu etwas Neuem und Schrecklichem gemacht. Sie schreckte zusammen bei dem Eingeständnis, das sie nun rücksichtslos treffen konnte. Sie hatte sich verändert, und das hatte die Magie bewirkt. Sie schüttelte den Kopf. Nun, vielleicht hatte sie letztlich doch keine Veränderung erfahren, sondern lediglich eine neue Erkenntnis gewonnen. Vielleicht hatte ihr die Bekanntschaft mit dem erschreckenden Ausmaß der Macht des Wünschliedes nur das geoffenbart, was immer existiert hatte, und ihr gezeigt, wie sie immer gewesen war, ohne irgend etwas zu verändern. Vielleicht konnte sie es nur jetzt erst richtig verstehen.
Die Überlegungen lenkten sie nur geringfügig vom dichten Maelmord ab, der nun mit einer letzten Biegung der Steintreppe des Croagh näherrückte und das Ende ihres Abstiegs anzeigte. Sie ging langsamer, musterte starr die Dschungelmasse unten, sah das bizarre Labyrinth von Stämmen, Ästen und Schlingpflanzen, das in Nebelfetzen gehüllt lag, und das Ansteigen und Absinken des hier verwurzelten Lebens, das in beständigem Rhythmus zischend atmete. Im wüsten Innern dieser Hölle ließ sich kein anderes Leben erkennen.
Doch irgendwo in diesem Gewirr lag der Ildatch verborgen.
Wie sollte sie ihn finden?
Sie stand zwei Dutzend Stufen vom unteren Ende des Croagh entfernt, und der Maelmord schwoll rings um sie her sanft an. Sie ließ verwirrt den Blick darüber schweifen, kämpfte Ekel und Angst nieder, die sie durchfluteten, und versuchte verzweifelt, ruhig zu bleiben. Sie wußte, daß sie jetzt das Wünschlied anstimmen mußte, hatte Allanon ihr doch zugesichert, daß sie es konnte. Die Bäume, Sträucher und Ranken dieses Urwalds ähnelten den ineinander verschlungenen Bäumen droben am Regenbogensee. Sie konnte das Wünschlied einsetzen, um sie zu teilen. Damit ließe sich ein Durchgang schaffen.
Aber in welche Richtung sollte dieser Weg führen?
Sie zögerte. Etwas in ihr mahnte zur Vorsicht, daß die Macht des Wünschliedes diesmal auf andere Weise angewendet werden müßte, daß Kraft allein nicht genügen würde. Der Maelmord war zu ausgedehnt, zu übermächtig, um sich auf diese Weise bewältigen zu lassen. Hier mußten List und Schlauheit benutzt werden. Dieses Ding war lediglich eine Ausgeburt der gleichen Magie, über die sie verfügte, die alle Zeitalter von der Feenwelt her überdauert hatte und aus einer Zeit stammte, da Zauberei die einzige Macht darstellte...
Sie brach den Gedanken ab und blickte wieder zum Himmel hinauf. Der Sonnenschein wärmte ihr Gesicht auf ganz andere Weise als die Hitze der Grube. In seiner Wärme und Helligkeit lag Leben. Er lockte sie mit solcher zielstrebigen Kraft, daß sie einen Augenblick lang das unerklärliche und kaum zügelbare Bedürfnis empfand, zurückzulaufen.
Sie zwang sich, den Blick abzuwenden und wieder auf die dampfenden Tiefen des Urwalds zu richten. Noch immer zögerte sie, weiter hinabzusteigen. Der Weg lag noch nicht klar und sicher vor ihr. Sie konnte sich nicht blindlings in den Rachen dieses Dings stürzen. Zuerst mußte sie herausfinden, wohin sie ginge und wo der Ildatch versteckt lag. Ihr dunkelhäutiges Gesicht spannte sich. Sie mußte dieses Ding verstehen. Sie mußte in es hineinschauen.
Die Worte des Finsterweihers klangen ihr höhnisch im Ohr, ein Flüstern, das sie aus den Tiefen ihrer Erinnerung boshaft foppte: Sieh hinein, Brin von Shannara. Siehst du?
Und plötzlich und voller Schreck begriff sie alles. Es war ihr im Schiefertal mitgeteilt worden, doch sie hatte es nicht verstanden. Retterin und Zerstörerin hatte Brimen sie genannt, der aus den Tiefen des Hadeshorns aufgefahren war, Allanon zu rufen. Nicht im Maelmord mußte sie nach den Antworten suchen — nicht in diesem Höllenschlund.
In sich selbst mußte sie danach forschen!
Daraufhin straffte sie die Schultern, ihr dunkelhäutiges Gesicht wirkte wild entschlossen angesichts der Gewißheit dessen, was sie nun wußte. Wie leicht sollte es für sie sein, den Maelmord zu betreten und zu finden, was sie suchte! Es bestand keine Notwendigkeit, sich einen Weg in dieses Wesen zu erkämpfen, das den Ildatch bewachte — es war nicht einmal nötig, den Ildatch zu suchen. Es würde kein Ringen werden, kein Widerstreit verschiedener Zauberkräfte.