Sie sang, und die Melodie des Wünschliedes waren die Speise und der Trank, die sie nährten, bei Kräften hielten und ihr Leben verliehen.
Nun befand sie sich tief im Maelmord, weit von der Treppe des Croagh und der Welt entfernt, die sie zurückgelassen hatte. Hier existierte eine völlig andere Welt. Als sie sich mühte, eins mit ihr zu werden, reckte sie sich Brin entgegen und zog sie an sich. Gestank, Hitze und die Fäulnis des Lebenden umschlangen sie und entdeckten in ihr ihr Kind. Knorrige Äste, verdrehte, fleckige Ranken und hohe Halme von Gestrüpp und Unkraut streichelten ihren Leib, als sie vorüberschlüpfte, genossen die Lebhaftigkeit ihres Gesangs und fanden darin ein Elixier, das ihnen das Leben wiederschenkte. Aus großer Ferne fühlte Brin ihre Liebkosungen und lächelte zur Antwort.
Es war, als hätte sie aufgehört zu existieren. Ein winziger Teil von ihr wußte, daß sie hätte entsetzt sein müssen über die Dinge, die sich da so liebevoll nach ihr reckten und an ihr rieben. Doch sie ging nun in der Musik des Wünschliedes auf und war nicht mehr jene, die sie gewesen war. Alle die Empfindungen und Überlegungen, welche die ihren gewesen waren, die sie zu der gemacht hatten, die sie war, waren verschleiert von der schwarzen Magie, und sie wurde zu einem Wesen, das mit dem identisch war, in das sie jetzt eintauchte. Sie war ein verwandter Geist, der von einem fernen Ort zurückgekehrt war, und das Böse in ihr war ebenso stark wie das Böse, das sie erwartete. Sie war so unheilvoll geworden wie der Maelmord und das Leben, das hier keimte. Sie war eins mit ihm. Sie gehörte dazu.
Ein kleiner Teil in ihr begriff, daß es die Brin Ohmsford von einst nicht mehr gab und daß sie vom Zauber des Wünschliedes neu erschaffen worden war. Er verstand, daß sie sich selbst zu dem anderen Wesen hatte werden lassen — einem so abstoßenden Wesen, wie sie es ansonsten nicht hätte ertragen können — und daß sie nicht zu sich selbst zurückkehren würde, ehe sie ihren Weg zum Kern des Bösen gefunden hätte, das sie umgab. Die Euphorie, das Hochgefühl, welche die furchterregende Macht des Wünschliedes hervorgerufen hatte, drohte, sie sich völlig zu entfremden, ihr alle Vernunft zu rauben und sie für ewig zu dem zu machen, als das sie sich ausgab. All die eigentümlichen, wundersamen Phantasien waren nichts als Zierwerk des Wahnsinns, der sie auslöschen würde. Von ihrem ehemaligen Ich blieb nur ein kleiner Rest, den sie sorgfältig verschlossen aufbewahrte. Alles übrige war zum Kind des Maelmords geworden.
Die Mauer des Dschungels wich beiseite und schloß sich wieder, und alles blieb unverändert. Dunkelheit umhüllte sie so sanft wie schwarzer Samt und so lautlos wie der Tod. Der ganze Himmel blieb verdeckt, und nur das Dämmerlicht der hereinbrechenden Nacht durchdrang die Düsternis. Die ganze Zeit, da sie durch das Labyrinth von Dunkelheit und erstickender Hitze schritt, stieg der zischende Atem des Maelmords von der Erde auf, und seine Äste, Stämme, Halme und Ranken schaukelten und wiegten sich in dessen Bewegung. Bis auf das Fauchen herrschte nur Stille — angespannte, erwartungsvolle Stille. Es gab kein Anzeichen für anderweitiges Leben — kein Anzeichen für die Wandler, die schwarzen Wesen, die ihnen dienten, oder den Ildatch, der sie alle zum Leben erweckt hatte.
Sie ging weiter, angetrieben von dem Fünkchen Gedächtnis, das sie tief in ihrem Innern behütete. Suche den Ildatch, flüsterte es mit seiner feinen, schwachen Stimme. Such das Buch der schwarzen Magie. Die Zeit brach entzwei und entglitt ihr, bis sie völlig bedeutungslos geworden war. War sie eine Stunde hier? Oder länger? Sie hatte das eigentümliche Gefühl, schon sehr lange hier gewesen zu sein, vielleicht schon immer.
In weiter Ferne, daß sie es im Gewirr des Urwalds fast nicht wahrnahm, stürzte etwas von den Klippen oben und fiel in die Grube herab. Sie konnte seinen Sturz fühlen und seinen Schrei hören, als der Maelmord sich schnell darum schloß, es zerdrückte, zermalmte und verzehrte, bis es verschwunden war. Sie genoß seinen Tod und kostete von dem Blut des Verschlungenen. Als es fort war, verlangte sie nach mehr.
Dann streiften sie hingeraunte Warnungen. Aus einer vage erinnerten Vergangenheit sah sie Allanon wieder. Groß und gebeugt, mit ergrautem schwarzem Haar, von Alter zerfurchtem Gesicht, streckte er ihr die Arme über einen Abgrund entgegen, den sie nicht zu überbrücken vermochte, und seine Worte erklangen wie Regentropfen, die an ein Fenster schlugen, das vor ihr geschlossen war. Hüte dich. Das Wünschlied und seine Macht gleichen nichts, was ich jemals erlebt habe. Benutze es mit Vorsicht. Sie hörte die Worte, sah sie gegen die Scheiben prasseln und lachte unwillkürlich über die Weise, wie sie zerschellten. Die Gestalt des Druiden wich zurück und war verschwunden. Er ist jetzt tot, erinnerte sie sich überrascht. Für immer aus den Vier Ländern verschwunden.
Sie rief ihn zurück, als würde sein Wiedererscheinen ihr dazu dienen, sie an etwas zu mahnen, das sie irgendwie vergessen hatte. Er kam, segelte aus dem Dunst herbei und überschritt die Kluft, die sie trennte. Seine kräftigen Hände sanken herab und legten sich liebevoll auf ihre Schultern. In seinen Augen spiegelten sich Weisheit und Entschlossenheit, und er erweckte in ihr ein Gefühl, als hätte er sie niemals ganz verlassen, sondern wäre stets da gewesen. Du spielst jetzt kein Spiel, flüsterte er. Tu das nicht! Hüte dich! Und sie schüttelte den Kopf. Ich bin Retterin und Zerstörerin, erwiderte sie flüsternd. Aber wer bin ich nun? Sag es mir jetzt! Sag es mir...
Ein Kräuseln im Gewebe ihres Bewußtseins trug ihn, einen Geist, fort und plötzlich stand sie wieder im Maelmord. Ein Rumpeln von Unbehagen erschütterte den Maelmord, ein Laut des Mißfallens klang aus seinem Zischen. Er hatte eine kurze Veränderung in ihr gespürt und empfand sie als störend. Sie verwandelte sich augenblicklich zurück in das Wesen, das sie erschaffen hatte. Das Wünschlied stieg auf und schwebte in den Urwald, besänftigte ihn und lullte ihn wieder ein. Unbehagen und Unzufriedenheit ließen nach.
Sie schlüpfte erneut ins Nichts und ließ sich vom Maelmord verschlingen. Die Dunkelheit sank weiter nieder, das Licht verblaßte. Das Atmen der Grube schien schwerer zu werden. Das Gefühl der Seelenverwandtschaft, das das Wünschlied zwischen ihnen hervorgebracht hatte, band sie enger und ließ sie atemlos vor Spannung zurück. Nun war sie nahe — nahe an dem Ziel ihrer Suche. Diese Empfindung durchströmte sie wie ein plötzlicher Blutschwall, und sie sang mit verstärkter Intensität. Die Magie des Wünschliedes schwoll in der Düsternis an, und der Maelmord erbebte zur Antwort.
Dann wich die Mauer des Dschungels, und sie stand auf einer weiten, dunklen Lichtung, die dicht von Bäumen, Sträuchern und Schlingpflanzen umschlossen war. In ihrer Mitte erhob sich ein alter, baufälliger Turm, der im Dunkeln kaum mehr zu sehen war. Steinmauern ragten zum Dach des Waldes empor und bildeten eine Reihe spiralenartig auslaufender Türme und eingekerbter Zinnen, die so kahl und blank aussahen wie ein gebleichtes Gerippe. Nirgendwo überwucherte das Laubwerk des Waldes den Turm. Der Dschungel hatte ihn ausgespart, als bedeutete seine Berührung den Tod.
Brin blieb stehen, und die Melodie des Wünschliedes wurde zu einem erwartungsvollen Flüstern, als sie den Turm anstarrte.
Hier! Hier sitzt das Herz des Bösen. Der Ildatch!
Sie schlang die Schichten der Magie, die sie umhüllten, eng um sich und ging ihm entgegen.
43
Verwitterte und vom Alter rissige Holztüren standen halb geöffnet im dunklen Eingang des Turmes und hingen schräg in gebrochenen und von mangelnder Benutzung verrosteten Scharnieren. Eingehüllt in die Melodie ihres Liedes trat das Talmädchen hindurch. Im Innern herrschte bedrückende Düsternis, doch es war gerade hell genug, daß sie sehen konnte, wo ein verwaschener, dunstiger Schimmer in dünnen Streifen durch die Spalten und Risse in den bröckeligen Turmmauern sickerte. Staub überzog den Steinboden und bildete eine Schicht aus feinem Sand, der in Wölkchen aufstieg, wenn die Stiefel des Mädchens auftraten. Es war kühl hier, die Hitze und der Gestank des Dschungels blieben irgendwie ausgesperrt.