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Brin verlangsamte ihre Schritte. Ein Korridor wand sich vor ihr ins Dunkel. Sie drehte sich um, als eine Warnung tief aus ihrem Innern sie veranlaßte, einen wachsamen Blick zurück in den Urwald zu werfen, der diesen Turm einschloß.

Sie ging weiter. Die Macht der Magie durchfuhr sie wie eine plötzliche Hitzewallung, daß sie zu schweben schien. Sie schritt den Korridor hinab mit seinen Biegungen und Windungen und war sich kaum des Staubs bewußt, der wie Dampf unter ihren Füßen aufstieg. Einmal kam ihr die Frage in den Sinn, weshalb außer den ihren keine andere Fußabdrücke auf dem Gang, dem sie folgte, zu sehen waren, wo doch gewiß auch die Mordgeister diesen Weg benützt hatten, aber dann vergaß sie die Sache wieder.

Stufen stiegen vor ihr an, und sie begann sie zu erklimmen — es war ein langsamer, endloser Aufstieg ins Innerste des Turmes. Stimmen schienen ihr zuzuraunen, die keinen Ursprung und keine Identität besaßen, sondern aus der Luft selbst stammten, die sie atmete. Rings herum flüsterten sie ihr zu. Schatten und Zwielicht verschwammen ineinander und vermischten sich. Es war, als flösse sie in den Stein des Turmes selbst, wie sie so geisterhaft durch seine Räume schwebte, und als dehnte sie sich aus, eins mit ihm zu werden, wie sie mit dem Maelmord eins geworden war. Sie fühlte, wie es geschah, wie ihr Körper Stück für Stück aufgesogen wurde. Der Zauber des Liedes bewirkte es, der immer noch nach dem Bösen suchte, das hier verborgen lag und in ihr Innerstes eindrang, als wäre sie wirklich eins mit ihm...

Dann endete die Treppe, und sie stand auf der Schwelle zu einem gewölbeartigen Rundbau, der grau, düster und verlassen dalag. Fast wie aus eigenem Entschluß wurde das Wünschlied leiser und die Stimmen in der Luft um sie her verstummten.

Sie betrat den Raum und war sich dabei kaum der Bewegung ihres Körpers bewußt, schien sie doch immer noch zu schweben, anstatt zu gehen. Die Schatten wichen vor ihr zurück, und ihre Augen gewöhnten sich ans Licht. Die Kammer war nicht leer, wie sie zuerst geglaubt hatte. Da erhob sich ein Podium, das in der Düsternis fast unterging; auf ihm stand ein Altar. Sie trat einen Schritt hinzu. Auf dem Altar lag etwas Großes, Rechteckiges, eingehüllt in die Finsternis, die es selbst auszustrahlen schien. Sie ging noch näher heran. Heftige Erregung durchströmte sie.

Es war der Ildatch!

Sie wußte es augenblicklich, noch ehe sie recht erkannte, was sie sah. Das war der Ildatch, das Herz alles Bösen. Die Macht des Wünschliedes erfüllte sie und durchflutete sie mit wilder, heißer Glut.

Sie durchquerte den Raum in düstere Gedanken versunken und zuckte in sich selbst zurück wie eine zusammengeringelte Schlange. Die Musik des Wünschliedes wurde zu einem giftigen Zischen. Der Raum schien sich vor ihr zu dehnen, und die Wände wichen in die Dunkelheit zurück, bis es nichts mehr auf der Welt gab als das Buch. Sie erklomm die Stufen der Empore und trat dort an den Altar, wo es geschlossen dalag. Es war alt und abgegriffen, die Kupferbeschläge grünlich-schwarz angelaufen, und der Ledereinband brüchig und fleckig — ein riesenhafter, schwerer Foliant, der aussah, als hätte er alle Epochen der Menschheitsgeschichte miterlebt.

Sie starrte einen Augenblick erwartungsvoll darauf hinab und genoß die tiefe Befriedigung darüber, das Buch schließlich zum Greifen nahe zu haben.

Dann streckte sie die Hände aus und umschloß es fest.

- Kind der Finsternis -

Die Stimme flüsterte leise in ihrem Innern, und ihre Finger klebten auf den angelaufenen Beschlägen.

- Kind der Finsternis -

Das Wünschlied erstarb zu einem Flüstern und verstummte ganz. Ihre Kehle schnürte sich zu und erstickte die Musik, fast ehe sie begriff, was sie da getan hatte. Sie stand schweigend vor dem Altar mit eng um das Buch geklammerten Händen. Ein Nachhall der Stimme zog fetzenweise durch ihr Denken, griff wie Tentakel nach ihr und fesselte sie, daß sie sich nicht rühren konnte.

- Ich habe auf dich gewartet, Kind der Finsternis. Ich habe gewartet, seit du, Kind des Elfenzaubers, das Licht der Welt erblicktest und den Schoß deiner Mutter verließest. Wir beide, du und ich, waren stets durch stärkere Bande als die des Blutes, die des Fleisches verknüpft. Viele Male haben wir uns Geist an Geist berührt, und obgleich ich dich niemals kennenlernte und niemals deinen Weg kannte, wußte ich doch immer, daß du eines Tages kommen würdest. -

Die Stimme klang unmoduliert und flach, war weder die eines Mannes noch die einer Frau, sondern eines Wesens, dem beide Geschlechter innewohnten, war bar aller Empfindungen und allen Gefühls, so daß ihr Flüstern eine Leere ausdrückte, die alles Leben entbehrte. Brin lauschte auf diese Stimme und war von Eiseskälte durchströmt. Tief in ihrem Innern zuckte das Ich, das sie noch barg und versteckt hielt, vor Entsetzen zurück.

- Kind der Finsternis -

Sie ließ rasch den Blick durch das schummrige Licht des Raumes schweifen. Wo war der Sprecher, der sich an sie wandte? Was war das für ein Wesen, das sie so in seinen Bann schlug? Ihr Blick wanderte mit Grauen zu dem Buch, das sie in Händen hielt. Ihre Finger waren weiß von der festen Umklammerung, und der lederne Einband verstrahlte sengende Hitze.

- Ich bin, Kind der Finsternis. Ebenso wie du. Ich besitze Leben. Es ist immer so gewesen. Stets existierten jene, die mir Leben verleihen wollten. Stets gab es jene, die mir das ihre schenkten. -

Brin öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton hervor. Das sengende Gefühl stieg von ihren Händen in die Arme und weiter hoch.

- Erkenne mich. Ich bin der Ildatch, das Buch der schwarzen Magie aus dem Zeitalter der Feenwesen. Ich bin älter als die Elfen - so alt wie der König vom Silberfluß, so alt wie die Welt. Die mich erschufen, die mir Gestalt verliehen, sind mit dem Auftauchen der Welt der Feen und des Menschen längst verschwunden. Einst war ich nur ein Teil der Welt, den man vor aller Augen verbarg und nur im Finstern erwähnte. Ich war lediglich eine Sammlung von Geheimnissen. Dann nahm diese Sammlung Gestalt an, als jene sie niederschrieben und studierten, die meine Macht kennenlernen wollten. Es hat immer solche gegeben, die sie angestrebt haben. Durch alle Zeitalter hindurch bin ich für sie präsent gewesen und habe jenen meine Geheimnisse offenbart, die daran teilhaben wollten. Ich habe Geschöpfe aus Zauberei geschaffen und ihnen Macht verliehen. Doch niemals war da jemand wie du —

Die Worte verhallten in erwartungs- und verheißungsvollem Flüstern, und das Talmädchen fühlte sie wie umhergewehtes Laub durch ihr Denken trudeln. Die sengende Hitze durchströmte nun ihren ganzen Körper und prickelte wie die Heißluft, die einem aus einer aufgerissenen Ofentür entgegenschlägt.

Es gab viele vor dir. Von den Druiden stammten der Dämonen-Lord und die Schädelträger. Sie fanden in mir die Geheimnisse, die sie suchten, und wurden zu dem, was sie anstrebten. Doch ich war die Macht. Aus den von anderen Rassen ausgestoßenen Menschen wurden die Mordgeister, als die Saat schon gesät war. Aber wieder stellte ich allein die Macht dar. Immer stelle ich die Macht dar. Jedesmal haben die Betreffenden eine überragende Vorstellung, was aus der Welt und ihren Geschöpfen zu werden hat. Jedesmal verleihen die geistigen Kräfte jener, welche die innerhalb meiner Seiten gebannte Macht benutzen wollen, dieser Vision Gestalt. Und jedesmal erweist sie sich als unzulänglich, und der Bildner scheitert an der selbstgestellten Aufgabe. Kind der Finsternis, wirf nun einen Blick darauf, was ich zu bieten vermag —

Wie aus eigenem Willen schlugen Brins Hände vorsichtig den Ildatch auf, und seine Pergamentblätter begannen sich zu wenden. Worte flüsterten von einem Text, deren Schrift und Sprache älter waren als die Menschheit und wurden von Geschriebenem zu einer leisen, geheimnistuerischen Stimme. Der Geist des Talmädchens tat sich ihnen auf, und sogleich erfüllte sie das Verständnis für den Text. Da ein Hauch, dort eine leise Berührung, und finster und schrecklich enthüllten sich ihr die Geheimnisse der Macht.