Doch ein Versuch war nicht nötig. Sie hatte es bereits vorher in der Macht ihres Wünschliedes gefühlt. Macht! Sie war davon mitgerissen worden, hatte in ihrer Süße geschwelgt. Als sie sie umhüllte, erhob sie sich weit über die ganze Welt und deren Geschöpfe und konnte sie an sich ziehen oder auslöschen, ganz wie sie das entschied. Wieviel mehr konnte sie demnach vollbringen — konnte sie fühlen, wenn sie auch die Macht dieses Buches besäße?
- Alles Bestehende wäre dein. Alles. Sei, wie du magst, und gestalte die Welt, wie sie deines Wissens sein sollte. Du könntest so vieles vollbringen, und es verhielte sich bei dir so, wie es sein sollte — nicht wie bei jenen, die vor dir kamen. Du verfügst über die Kraft, die ihnen abging. Du bist dem Elfenzauber entsprungen. Benutze mich, Kind der Finsternis. Erforsche die Grenzen deiner eigenen Magie und der meinen. Werde eins mit mir. Darauf habe ich gewartet, und zu diesem Zweck bist du gekommen. Das war uns ewig vorbestimmt. Ewig -
Brin schüttelte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen. Ich bin gekommen, das zu zerstören, dem ein Ende zu bereiten... In ihrem Innern schien alles zu zerbrechen und zu Scherben auseinanderzufallen wie Glas auf Stein. Blendende Hitzewallungen durchloderten sie, und sie hatte das Gefühl, losgelöst zu sein von ihrem Körper, der sie zurückzuhalten suchte.
- Ich habe Wissen zu bieten, das ich dir schenken würde. Ich besitze Einsicht, die alles jemals von sterblichen Wesen Erträumte übersteigt. Sie vermag dich zu allem zu machen, das du willst. Ein ganzes Leben kann neugestaltet werden, so wie es sein sollte, wie du es für richtig erkennst. Vernichte mich, und alles, was ich um schließe, ist sinnloserweise verloren. Zerstöre mich, und nichts von allem, was geschehen könnte, wird Wirklichkeit. Wahre das Gute, Kind der Finsternis, und nimm es in Besitz -
Allanon, Allanon...
Doch die Stimme schnitt ihren lautlosen Schrei ab.
- Sieh dich um, Kind der Finsternis. Was du wirklich zerstören möchtest, steht hinter dir. Nun dreh dich um und schau. Dreh dich um und schau -
Sie fuhr herum. Eine ganze Ansammlung Wandler glitt geisterhaft als große, schwarze und abweisende Gestalten aus dem Dunkel. Sie zogen einer nach dem anderen in den runden Kuppelraum und hielten inne, als sie Brin erblickten, die in ihren Händen das Buch der schwarzen Magie hielt. Wieder flüsterte die Stimme des Ildatch ihr zu.
- Das Wünschlied, Kind der Finsternis. Gebrauche den Zauber. Vernichte sie. Vernichte sie -
Sie handelte fast ohne nachzudenken. Sie riß den Ildatch beschützend an sich und setzte die Macht ihrer Magie ein. Sie wirkte schnell und löste sich in ihr wie eine Flutwelle. Brin stieß einen Schrei aus, und das Wünschlied zerriß die finstere Stille des Turmes. Es drang durch die Düsternis des Rundbaus wie ein greifbares Ding. Es packte die Wandler in einer laut schallenden Explosion, und sie hörten einfach auf zu sein. Nicht einmal Asche blieb von ihrer ehemaligen Existenz.
Brin taumelte gegen den Altar zurück, und in ihrem Körper vermischte sich die Magie des Wünschliedes mit der des Buches.
- Fühle sie, Kind der Finsternis. Fühle die Macht, über die du gebietest. Sie erfüllt dich, und ich bin ein Teil von ihr. Wie leicht müssen deine Feinde vor dir fallen, wenn diese Macht entfesselt wird? Kannst du noch länger zweifeln, was geschehen muß? Denk nicht mehr daran, daß jemals etwas anderes geschehen könnte. Denk nicht mehr daran, daß wir nicht eins sein könnten. Nimm mich und benutze mich. Zerstöre die Geister und die schwarzen unheilvollen Wesen, die dir Widerstand leisten wollen. Mach mich zu deinem Besitz. Verleih mir Leben -
Noch immer kämpfte jener tief in ihrem Innern verborgene Teil, um der Stimme Widerstand zu leisten, doch sie hatte keine Gewalt mehr über ihren Körper. Der war nun im Besitz des Zaubers, und sie saß in seiner Hülle fest. Sie wuchs aus sich heraus zu einem neuen Wesen, und das winzige Restchen Ich sah immer noch die Wahrheit, die auf der Strecke blieb. Sie wuchs an, bis es aussah, als erfüllte sie den ganzen kleinen Raum. Hier war so wenig Platz für sie! Sie benötigte den Raum, der draußen vorhanden war!
Ein langes, qualvolles Stöhnen brach von ihren Lippen, sie streckte die Arme aus und hielt den Ildatch in die Höhe.
- Benutze mich. Benutze mich -
In ihr begann die Macht anzuschwellen.
44
Die Stufen des Croagh flogen unter Jairs Füßen dahin, als er hinter Garet Jax und Spinkser hereilte, und es schien ihm, als müßte eine jede, die er erklomm, die letzte sein. In seinem Körper verspannten und verkrampften sich die Muskeln, Schmerz von seiner Wunde durchbohrte ihn und zehrte von seiner bereits schwindenden Kraft. Er rang keuchend um Atem, seine Lungen stachen, und Schweiß rann ihm über das sonnengebräunte Gesicht.
Doch irgendwie hielt er mit ihnen Schritt. Etwas anderes stand auch niemals zur Debatte.
Sein Blick schweifte beim Laufen am Croagh entlang in die Höhe, konzentrierte sich auf das Hin und Her von Treppen und Geländer und folgten dem rauhen, verwitterten Gestein. Die Felswände und die Mauern der Burg unter ihm, die nun in immer weitere Ferne rückten und allmählich verschwanden, Graumark und das Rabenhorn, waren ihm wohl bewußt. Er wußte auch um das Tal rings umher, das im Dunst und dem Zwielicht der rasch hereinbrechenden Dämmerung unterging. Knappe Bilder glitten am Rande seines Blickwinkels vorüber und waren schnell vergessen, denn nichts von alledem war jetzt von Bedeutung. Nur der Aufstieg zählte, und was ihn am Ende erwartete.
Der Himmelsbrunnen.
Und Brin. Er würde sie in den Wassern des Brunnen wiederfinden und erfahren, was er zu ihrer Rettung tun mußte. Der König vom Silberfluß hatte ihm versprochen, er fände eine Möglichkeit, Brin sich selbst wiederzuschenken.
Plötzlich rutschte sein Stiefel unter ihm weg, als er auf eine Stelle bröckeligen Gesteins trat; er fiel nach vorn und schrammte sich die Hände auf, als er sich auffing. Schnell stieß er sich wieder in die Höhe, ohne der Verletzung Beachtung zu schenken.
Die beiden vor ihm liefen mühelos weiter — Garet Jax und Spinkser, die letzten der kleinen Gruppe, die von Culhaven gekommen waren. Bitterkeit und Zorn durchströmten den Talbewohner. Lichtblitze tanzten ihm vor Augen, als er einen Augenblick nach Atem rang und Erschöpfung ihn übermannte. Doch sie waren fast am Ende der Reise angelangt.
Die steinerne Spirale des Croagh schwenkte plötzlich nach rechts, und der Gipfel, dem sie entgegenstiegen, ragte zerklüftet und finster vor ihnen in einen grau werdenden Himmel. Die Treppe führte zu einem dunklen Höhleneingang, der in den Kern des Berges vorstieß. Es blieben keine zwei Dutzend Stufen mehr.
Garet Jax machte ihnen Zeichen zu warten, kletterte dann lautlos die wenigen letzten Stufen zum Gipfel des Croagh empor und trat auf das Felssims. Dort blieb er einen Augenblick stehen, und seine dunkle Gestalt zeichnete sich schmal und düster vom nachmittäglichen Himmel ab. Er war irgendwie unmenschlich, schoß es Jair kurz durch den Kopf, irgendwie unwirklich.
Der Waffenmeister drehte sich um und heftete die grauen Augen auf ihn. Er winkte mit einer Hand.
»Beeil dich, Junge«, murmelte Spinkser.
Er kroch das letzte Ende der zum Croagh führenden Stiege hinauf und stand neben Garet Jax. Vor ihnen dehnte sich die Höhle, eine riesenhafte, von Dutzenden von Rissen durchzogene Kammer, durch die in verwaschenen, dunstigen Streifen das Licht hereinfiel. Kurz dahinter sammelten sich die Schatten, und nichts regte sich in ihrer Schwärze.
»Von hier aus kann man nichts erkennen«, brummelte Spinkser. Er wollte weitergehen, doch Garet Jax zerrte ihn zurück.
»Wartet, Gnom«, sagte er. »Dort drinnen ist etwas... dort liegt etwas auf der Lauer...«