Gnom und Talbewohner verlangsamten vorsichtig ihren Schritt und ließen die Blicke durch Düsternis und nebelhafte Gischt in die tiefen Ecken und Nischen am dunklen Ende der Höhle schweifen. Nichts rührte sich. Nur die Strömung des geschwärzten Wassers deutete so etwas wie Leben an, das in einem üblen Giftschwall dampfte und kochte, wo es aus der Quelle hervorsprudelte. Über allem hing wie ein Leichentuch der Gestank des Maelmord. Jair ging weiter, den Blick auf das Becken geheftet, das den Himmelsbrunnen darstellte. Wie grotesk ihm dieser Namen nun erschien, wenn er das verseuchte Wasser betrachtete. Das verdient nicht mehr den Namen Silberfluß, dachte er niedergeschlagen, und er fragte sich, wie die Magie des alten Mannes ihn in das zurückverwandeln sollte, was er einmal gewesen war. Langsam griff er in sein Hemd, und seine Finger schlössen sich um den winzigen Beutel Silberstaub, den er auf dem ganzen langen Weg nach Westen bei sich getragen hatte. Er zog die Kordeln auf und spähte hinein. Drinnen lag das Häufchen Staub wie gewöhnlicher Sand.
Und wenn es nur Sand wäre?
»Vergeude nicht noch mehr Zeit!« keifte Spinkser.
Jair trat an den Beckenrand und bemerkte deutlich den Schlamm, der die dunklen Wasser des Brunnens erstickte, und den überwältigenden Gestank. Es durfte einfach nicht nur Sand sein! Er schluckte seine Angst hinab und mußte an Brin denken...
»Nun wirf schon!« rief Spinkser wütend.
Jairs Hand zuckte hoch, schüttete den Silberstaub aus dem Beutel und streute ihn im weiten Bogen über die Oberfläche des vergifteten Brunnens. Die winzigen Körnchen flogen aus ihrem dunklen Behältnis; im Licht der Höhle schienen sie plötzlich zu funkeln und zu schillern. Sie fielen ins Wasser und erwachten zu Leben. Eine Flamme strahlenden Silberfeuers schoß aus dem dunklen Becken empor. Jair und Spinkser wichen zurück und beschirmten ihre Augen mit den Händen, als der grelle Schein sie blendete.
»Der Zauber!« rief Jair.
Zischend und brodelnd schössen die Wasser des Himmelsbrunnens in die Höhe, regneten über die ganze Länge und Breite der Höhle hernieder und ergossen sich über die beiden, die an der Brunneneinfassung kauerten. Dann schien mit dem Wasserschauer eine Bö frischer Luft aufzukommen, Gnom und Talbewohner verfolgten das Ganze ungläubig und ehrfurchtsvoll. Vor ihnen sprudelten die Wasser des Himmelsbrunnens klar und rein aus dem Bergfels. Der Gestank und die schwarze, verseuchte Farbe waren fort. Der Silberfluß war wieder sauber.
Schnell zog Jair den Sehkristall an seiner Silberkette von seinem Hals. Nun gab es kein Zögern mehr. Er trat wieder ans Becken und trat auf einen kleinen Felsüberhang, der über das Wasser reichte. In seinem Innern hörte er wieder die Worte des Königs vom Silberfluß, was er tun mußte, wenn er Brin retten wollte.
Seine Hand spannte sich um den Kristall, und er schaute in das Wasser im Becken hinab. In diesem einzigen Augenblick schienen alle Erschöpfung und Schmerzen zu verfliegen.
Er warf den Kristall und die Kette in die Tiefen des Brunnens. Ein gleißender Lichtblitz zuckte auf — ein größerer, als ihn die Ausstreuung des Silberstaubs hervorgerufen hatte — und die ganze Höhle schien lichterloh in Flammen zu stehen. Jair sank erschreckt auf die Knie, hörte hinter sich Spinksers heiseren Aufschrei, und dachte einen Augenblick lang, alles wäre auf entsetzliche Weise schiefgegangen. Doch dann tauchte das Licht in das Wasser des Beckens, und das wurde so glatt und klar wie Glas.
Die Antwort — zeig mir die Antwort!
Langsam breitete sich ein Bild auf der Wasseroberfläche aus, schillerte erst durchscheinend und verdichtete sich dann. Ein gewölbeartiges, von staubigem, grauem Licht durchzogenes Turmzimmer erschien, und die bedrückende Atmosphäre des Dargestellten war fast greifbar. Jair bekam Angst vor dem, was er da empfand, während er zusah, wie der Raum sich ausdehnte und ihn in sich hineinzuziehen begann.
Und dann erschien das Gesicht seiner Schwerter...
Brin Ohmsford fühlte den Blick auf sich ruhen, der alles erkannte, was sie war und werden wollte, und dann versuchte, sie an sich zu ziehen. Obgleich sie in dicke Schichten der Magie geschlungen war, als die Macht des Ildatch in ihr aufstieg, fühlte sie den Blick und riß ihre Augen auf.
Bleib mir vom Leib! brüllte sie. Ich bin das Kind der Finsternis!
Doch jener winzige Teil von ihr, den die Magie nicht verwandelt .hatte, erkannte den Blick und suchte seine Hilfe. Zurückgehaltene Gedanken rissen sich in ihrem Innern aus ihren Fesseln los, flohen wie Schafe vor dem Wolf, der sie hetzte, und schrien und kämpften, das sichere Obdach zu erreichen. Sie sah sie, und die Entdeckung erfüllte sie mit blinder Wut. Sie griff nach den flüchtigen Gedanken und verscheuchte sie, einen nach dem anderen. Kindheit, Zuhause, Eltern, Freunde — die einzelnen Teile, die ihr Ich ausgemacht hatten, ehe sie ihre weiteren Möglichkeiten entdeckt hatte — sie zermalmte sie alle.
Dann entlud sich ihre Stimme in einem qualvollen Jammern, und selbst die alten Mauern des finsteren Turmes bebten angesichts der Heftigkeit ihrer Wehklage. Was hatte sie getan? Schmerz erfüllte sie nun, ausgelöst durch den Schaden, den sie angerichtet hatte. Die Einsicht eines kurzen Augenblicks durchströmte sie, und sie hörte das Echo der Prophezeiung des Finsterweihers. Tatsächlich war sie in den Maelmord gekommen, hier ihren Tod zu finden — und sie hatte ihn gefunden! Doch es war nicht der Tod, den sie erwartet hatte. Es war der Tod ihres Ichs durch die Verlockung der Magie!
Doch selbst angesichts dieser entsetzlichen Erkenntnis vermochte sie nicht, den Ildatch loszulassen. Sie war überwältigt von dem Gefühl der wachsenden Zaubermacht in ihr, die sich wie steigende Flut ausbreitete. Sie hielt das Buch in tödlichem Griff von sich gestreckt und hörte die ermutigenden und verheißungsvollen Zuflüsterungen der unbeteiligten Stimme. Sie lauschte auf die Worte, weil sie nicht anders konnte, und die Welt begann sich ihr zu erschließen...
Jair taumelte am Beckenrand vom Bild seiner Schwester zurück. War das tatsächlich Brin, die er da gesehen hatte? Entsetzen überwältigte ihn, als er sich zwang, sich die Erscheinung noch einmal vorzustellen, die das Wasser ihm vorgeführt hatte. Es war seine Schwester, allerdings zu etwas kaum Wiederzuerkennendem entstellt — eine Verzerrung des menschlichen Wesens, das sie einmal gewesen war. Sie hatte sich selbst verloren — genau wie der König vom Silberfluß es vorausgesagt hatte.
Und Allanon? Wo steckte Allanon? Wo war Rone? Hatten sie sie im Stich gelassen, wie er, der zu spät an den Himmelsbrunnen gelangt war?
Tränen rannen über Jair Ohmsfords Gesicht. Es war so gekommen, wie der alte Mann ihn gewarnt hatte — alles, wie es vorherbestimmt war. Entsetzliche Verzweiflung übermannte den Jungen aus dem Tal. Er blieb als letzter übrig. Allanon, Brin, Rone, die kleine Gruppe von Culhaven — alle dahin.
»Junge, was machst du eigentlich?« hörte er Spinkser rufen. »Komm zurück und benutze, was von deinem gesunden Menschenverstand noch übrig ist...«
Jair verschloß Ohren und Denken für den Rest dessen, was der Gnom ihm sagen wollte, und heftete seinen Blick wieder auf die Erscheinung im Wasser des Beckens. Es war Brin, die in den Maelmord hinabgestiegen, vom Buch des Ildatch angezogen und irgendwie von der Magie zerstört worden war, die sie hatte vernichten wollen.
Und er mußte zu ihr. Selbst wenn es zu spät wäre, müßte er versuchen, ihr zu helfen.
Er stand wieder auf und erinnerte sich an das letzte Geschenk des Königs vom Silberfluß. »Nur ein einziges Mal wird das Wünschlied dir nutzen, nicht nur Trugbilder, sondern Wirklichkeit zu schaffen.«