Er verdrängte Verwirrung, Entsetzen, Furcht und Verzweiflung und sang. Die Melodie des Wünschliedes stieg in die Stille der Höhle auf, überflutete sie und erstickte die unvermittelten Protestschreie, die Spinkser ausstieß. Schmerz und Erschöpfung wurden zu Vergangenheit, als er nach dem Wunsch rief. Das funkelnde, weiße Licht des Beckenwassers erstrahlte erneut in der Luft über dem Himmelsbrunnen, und wieder schoß die Gischt in einem Geysir himmelwärts.
Spinkser taumelte geblendet und betäubt zurück. Als er endlich wieder sehen konnte, war Jair Ohmsford in dem Licht verschwunden.
45
Dann kam ein Augenblick, da Jair den Eindruck hatte, aus sich selbst herauszutreten. Er stand im Licht und war gleichzeitig daraus verschwunden. Er durchquerte Gestein und Raum wie ein körperloser Geist, und das ganze Land begann sich wild um ihn zu drehen. Aus dem Strudel tauchten einzelne, kurze Bilder auf. Da war Spinkser mit seinem derben, gelben Gesicht, auf dem sich Schock und Ungläubigkeit abzeichneten, als er auf das leere Becken starrte, von dem Jair verschwunden war. Garet Jax war in einen tödlichen Kampf mit dem roten Ungeheuer verstrickt, sein mageres Gesicht glühte vor wilder Entschlossenheit, und seine dunkle Gestalt war zerfetzt und blutbesudelt. Gnomen-Jäger stürmten in wildem Durcheinander durch die Hallen von Graumark und suchten nach den Eindringlingen, die ihnen irgendwie entwischt waren. Helt lag am Boden des Torhäuschens, durchbohrt von Schwert und Pike. Foraker und der Elfenprinz waren dicht eingekesselt...
Schluß damit!
Er schrie die Worte, entriß sie wie verwurzelte Teile der Musik seines Liedes, und die Bilder erloschen. Er segelte hinab, glitt dahin auf der glatten Oberfläche des Wünschliedschreis. Er mußte zu Brin gelangen!
Unten flog das Gewirr des Maelmord ihm entgegen. Er sah, wie seine dunkle Masse wie ein Lebewesen an- und abschwoll, und hörte das widerliche Zischen seines Atems. Bergwände flogen an ihm vorüber, während er fiel, und er sah den Urwald die Arme emporrecken, um ihn aufzufangen. Panik erfüllte ihn. Dann tauchte er in den Maelmord ein; das weit aufgerissene Maul schloß sich um ihn, Gestank und Dunst umhüllten ihn, und alles verschwand.
Jair kam langsam wieder zu sich. Dunkelheit hatte sich wie ein Leichentuch über sein Gesichtsfeld gebreitet, und ihm drehte sich der Kopf. Er blinzelte, und das Licht kehrte zurück. Er fiel nicht mehr durch den Strudel seines Wünschliedes und segelte nicht mehr ins wirre Dunkel des Maelmord hinab. Seine Reise war beendet. Die Mauern des Turmes, den er gesucht hatte, umgaben ihn mit ihrem uralten, bröckeligen Gestein. Er stand im Innern und war Teil des Bildes, das die Wasser im Becken vom Himmelsbrunnen ihm gezeigt hatten.
»Brin!« flüsterte er heiser.
Eine in Schatten und graues Zwielicht getauchte Gestalt, deren zarte Hände ein dickes, metallgebundenes Buch fest umspannten, drehte sich um.
Brin war ein verzerrtes Abbild der Frau, die sie einst gewesen war, und ihre Züge waren kaum wiederzuerkennen, so entstellt wirkten sie. Die ganze außergewöhnliche Schönheit und Ausstrahlung ihres Äußeren war zu etwas erstarrt, das aus Stein hätte gemeißelt sein können. Sie war eine Erscheinung, aus der alle Farbe gewichen war und deren zierlicher Körper sich gebückt und knochendürr ins Dunkel drängte. Entsetzen erfüllte Jair. Was hatte man ihr angetan?
»Brin?« rief er noch einmal mit versagender Stimme.
Eingehüllt in die furchteinflößende Macht des Ildatch-Zaubers, der in sie strömte, um sich mit ihrer Magie zu vermischen, wurde Brin kaum der einsamen Gestalt gewahr, die da auf der anderen Seite des Turmzimmers stand. Jair rief nach ihr — ein leises, vertrautes Rufen. Sie kämpfte sich einen Augenblick durch die Schichten von Magie, die sie umschlangen, zu ihrer Vernunft vor, die sich tief in ihr Innerstes geflüchtet hatte, und die Erinnerung kehrte zurück. Jair! Ach, gütige Geister — es war Jair!
Doch die schwarze Magie straffte sich und zerrte sie zurück. Die Macht durchströmte sie, spülte alles Wiedererkennen der Person, die ihr gegenüberstand, fort und machte Brin wieder zu der Kreatur, zu der sie sich hatte werden lassen. Zweifel und Mißtrauen durchzuckten sie, und die ausdruckslose Stimme des Ildatch flüsterte ihr eine Warnung zu.
- Er ist böse, Kind der Finsternis. Eine Täuschung, der die Mordgeister Leben verliehen haben. Halte ihn dir fern. Vernichte ihn -
Nein, es ist Jair... irgendwie ist er gekommen... Jair...
- Er will dir deine Macht stehlen. Er will uns töten -
Nein, Jair... ist gekommen...
- Zerstöre ihn, Kind der Finsternis. Zerstöre ihn -
Sie kam offenbar nicht gegen sich an. Ihr Widerstand zerbrach, ihre Stimme erhob sich zu einem furchterregenden Klagen. Doch Jair hatte den plötzlichen, haßerfüllten Ausdruck im Gesicht seiner Schwester gesehen und sich bereits in Bewegung gesetzt. Er sang, auf daß seine eigene Magie ihn beschützte, als er aus sich heraustrat und nur ein Abbild zurückließ. Selbst damit konnte er ihr kaum entkommen. Der Ausbruch von Lauten, die über Brins Lippen kamen, löste das Bild auf, sogleich erbebte die Wand dahinter von der Nachwirkung und schleuderte ihn wie einen leeren Sack auf den Steinboden. Staub und Sand wirbelten durchs Dämmerlicht, und der alte Turm zitterte von der Wucht des Angriffs.
Langsam kroch Jair wieder auf die Knie und duckte sich in den Schleier von Trümmerstückchen, der in der Luft hing. Einen Augenblick lang wankte seine Gewißheit, daß er den dritten Zauber klug eingesetzt hatte. Als er Brin in den Wassern des Himmelsbrunnen erblickt hatte, war es ihm so klar erschienen. Er hatte gewußt, daß er zur ihr gehen mußte. Aber was sollte er jetzt, da er bei ihr war, nur tun? Sie hatte sich von ihrem wahren Ich abgekehrt, wie der König vom Silberfluß es vorhergesagt hatte. Sie war nicht wiederzuerkennen, wie die schwarze Magie des Ildatch sie entstellt hatte. Doch es war mehr als das, denn sie hatte nicht nur sich verändert, sondern auch der Zauber ihres Wünschliedes war ein anderer geworden. Es hatte sich zu einem Ding von furchterregender Macht entwickelt, zu einer Waffe, die sie gegen ihn einsetzen wollte, da sie nicht wußte, wer er war, und sich nicht im geringsten an ihn erinnern konnte. Wie sollte er ihr helfen, wenn sie ihn auslöschen wollte?
Ihm blieb nur ein Augenblick Zeit, das Dilemma abzuwägen. Er kam wieder auf die Beine. Allanon hätte vielleicht die Kraft gehabt, solcher Macht zu widerstehen. Rone wäre vielleicht schnell genug, ihr zu entkommen. Die kleine Gruppe aus Culhaven wäre vielleicht zahlenmäßig stark genug gewesen, sie zu überwinden. Aber sie waren von ihm gegangen. Alle, die ihm hätten beistehen können, waren nicht mehr am Leben. Welche Hilfe er auch mobilisieren könnte, er würde sie in sich selbst finden müssen.
Rasch schlüpfte er durch den Schleier von Dunst und Staub. Er wußte, wenn er Brin irgendwie nützlich sein wollte, müßte er sie zuerst von dem Ildatch losreißen.
Die Luft vor ihm klärte sich, zehn Meter entfernt tauchte Brins dunkle Gestalt auf. Sofort begann er zu singen; das Wünschlied erfüllte die Stille mit laut summendem Klang und vermittelte mit seiner Melodie eine geflüsterte Bitte. Brin, rief es. Das Buch ist zu schwer, sein Gewicht zu groß. Laß es los, Brin. Laß es fallen!
Für eine kurze Sekunde fielen Brins Hände herab, und sie senkte zweifelnd den Kopf. Es hatte den Anschein, als würde die Illusion funktionieren und sie ließe den Ildatch los. Dann schoß Raserei durch ihr hageres Gesicht und der Schrei des Wünschliedes zerschlug die Luft in Geräuschintervallen, die Jairs Trugbild zerschmetterten.
Der Talbewohner taumelte zurück. Er versuchte es erneut und erweckte diesmal die Vorstellung von Feuer, das mit einem Zischen Flammen rund um den Einband des alten Buches aufloderten. Brin stieß einen Schrei wie ein Tier aus, riß dann aber das Buch an ihren Körper, als könnte sie die Flammen damit ersticken. Ihr Kopf fuhr mit hektischem Blick herum. Sie wollte ihn unbedingt finden, um die Magie dazu zu benützen, ihn zu vernichten.