Dann schrie sie auf. Arme hielten sie umfangen, Arme aus Fleisch und Blut, warm und lebendig, und Jair stand vor ihr und drückte . sie fest an sich. Er war real, nicht phantasiert, er war ein lebendiges Wesen und sprach durch das Wünschlied zu ihr. Bilder erfüllten ihr Denken, Bilder dessen, wer sie gewesen waren und heute waren, Bilder der Kindheit und der Zeit danach — von allem, was ihr Leben ausgemacht hatte und ausmachte. Da war Shady Vale, die dicht zusammengedrängten Häuser des Dorfes, in dem sie aufgewachsen waren, holzverschalte Häuschen zwischen Steinbauten und reetgedeckten Hütten, wo die Leute sich von ihrem Tagwerk zum Abendessen und den kleinen Vergnügungen niederließen, die aus dem Zusammensein mit Familie und Freunden erwuchsen. Das Gasthaus war von Lachen und Unterhaltungen erfüllt und von Kerzen und Öllampen erhellt. Sie sah ihr Zuhause mit den Wegen und den schattigen Hecken, den alten Bäumen in herbstlichen Farben, durch welche verblassende Streifen nachlassenden Sonnenlichts fielen. Das kräftige Gesicht ihres Vaters lächelte zuversichtlich, ihre Mutter streckte die dunkelhäutige Hand aus, sie zu streicheln. Da waren Rone Leah und ihre Freunde und... Eine nach der anderen wurden die Stützen, die ihr entrissen und so rücksichtslos vernichtet worden waren, wieder aufgerichtet. Die Bilder durchströmten sie warm und süß, auf eigentümliche Weise läuternd, voller Liebe und Zuversicht.
Brin sank weinend in die Arme ihres Bruders.
Dann geißelte sie die Stimme des Ildatch.
-Vernichte ihn! Vernichte ihn! Du bist das Kind der Finsternis -
Doch sie vernichtete ihn nicht. Verfangen in dem Netz der Bilder, die sie durchströmten, und tief eingetaucht in den Quell der Erinnerungen, die sie auf immer verloren geglaubt hatte, konnte sie fühlen, wie die Persönlichkeit, die sie einmal gewesen war, zurückkehrte. Jener Teil von ihr, der verloren schien, wurde wieder aufgebaut. Die Bande der Magien, die sie zu fesseln begonnen hatten, lockerten sich allmählich, fielen ab und gaben sie frei.
Die Stimme des Ildatch klang plötzlich heftig.
- Nein! Du darfst mich nicht loslassen! Du mußt mich festhalten. Du bist das Kind der Finsternis -
Ach, das war sie doch gar nicht! Sie ahnte und fühlte es nun durch das Gespinst der Lügen hindurch, die anzunehmen sie sich hatte überreden lassen. Sie war nicht das Kind der Finsternis!
Jairs Gesicht stieg aus tiefem Nebel zu ihr empor. Seine vertrauten Züge, zunächst verschwommen, waren nun deutlich umrissen, und er sprach zärtlich zu ihr.
»Ich liebe dich, Brin. Ich liebe dich.«
»Jair«, entgegnete sie flüsternd.
»Vollende jetzt die Aufgabe, zu deren Erfüllung du gekommen bist, Brin — was Allanon dir aufgetragen hat. Mach es schnell!«
Ein letztes Mal reckte sie den Ildatch hoch über ihren Kopf. Sie war weder das Kind der Finsternis, noch war das Buch der Diener, als den es sich ausgegeben hatte. Es hatte behauptet, sie würde Herrin seiner Magie, doch das war gelogen. Kein Lebewesen konnte Herr der schwarzen Magie werden — nur ihr Sklave. Es konnte keine Vereinigung von Fleisch und Blut mit der Magie geben, wie gut die Absicht auch sein mochte. Letzten Endes mußte jede Benutzung den Benutzer zerstören. Sie begriff das jetzt deutlich und fühlte plötzliche Panik von dem Buch ausgehen. Es war lebendig und empfindungsfähig; also laß es los! Es hätte sie von Grund auf verändert; es hätte ihr die Lebenskraft ausgesaugt wie schon so vielen vor ihr, und sie in ein ebenso böses, entstelltes Wesen verwandelt wie die Mordgeister, die Schädelträger vor ihnen oder den Dämonen-Lord selbst. Es wollte sie auf die Vier Länder hetzen und alle, die sie bewohnten, um wieder Finsternis über sie zu bringen...
Sie holte aus und schleuderte das Buch von sich. Es schlug mit unheimlicher Wucht auf den Steinboden. Die Metallschlösser brachen und fielen herab. Seiten rissen heraus und flogen verstreut umher.
Dann wandte Brin Ohmsford das Wünschlied an. Es erschallte hart und schnell, als es die Überreste des Buches mit seiner Macht erfaßte und in nutzlosen Staub verwandelte.
Am Rande des Croagh auf den Klippen unterhalb Graumark fühlte Rone, wie die Mordgeister den Griff ihrer Klauenfinger lösten, als würden sie von einem Feuer erfaßt, gegen das sie nicht ankamen. Die verhüllten Gestalten wichen zurück, drehten und wanden sich im grauen Licht des langsam dunkler werdenden Himmels. Ihre Stimmen klangen wie eine einzige in der plötzlichen Stille, und es erschallte ein wütendes, entsetztes Kreischen. Über die ganze Länge des Croagh bis hinab zu dem Sims, wo Rone gekämpft hatte, um sie zurückzuschlagen, zuckten die Mordgeister wie umhergeschüttelte Stoffpuppen.
»Rone!« rief Kimber und zerrte ihn von der Stelle, wo der vorderste der schwarzen Geister blindlings umhertaumelte.
Flammen schössen aus den Fingerspitzen der Geister und brachen aus ihren kapuzenverhüllten Gesichtern. Dann lösten sie sich einer nach dem anderen auf, zerfielen wie zerschmetterte Tonskulpturen, und die Mordgeister existierten nicht mehr.
»Rone, was ist mit ihnen geschehen?« flüsterte das Mädchen heiser, und ihre fassungslosen Worte zogen durch die Stille.
Die Hand des Hochländers umfaßte immer noch den Knauf des Schwertes von Leah, als er aufstand und langsam den Kopf schüttelte. Rauch und Trümmerpartikel zogen in der Luft über die Bergwand und schwebten träge um sie her. Wispers zerschundene Gestalt tauchte wie ein Geist aus diesem Dunstschleier auf.
»Brin«, murmelte Rone leise zur Antwort auf Kimbers Frage. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Es war Brin.«
Und dann fühlte er, wie das erste Erdbeben die Bergwand des Maelmord erschütterte.
Erschöpft starrte Brin Ohmsford auf den geschwärzten Stein am Boden des Turmes, wo die Überreste des Ildatch als feiner Staub zurückblieben.
»Da hast du dein Kind der Finsternis«, flüsterte sie bitter, und Tränen rannen ihr übers Gesicht.
Ein heftiges Beben, das aus der Erde emporstieg und sich durch die betagten Mauern ausbreitete, ließ den Turm erzittern. Steine und Balken begannen zu ächzen und nachzugeben und zerbröckelten durch die Vibration, der sie ausgesetzt waren. Brins Kopf fuhr in die Höhe, ihre Augen blinzelten in den Schauer von Sand und Staub, der auf ihr Gesicht niederregnete.
»Jair?« versuchte sie, ihn zu sich zu rufen.
Doch ihr Bruder entglitt ihr, Fleisch und Blut lösten sich wieder in dunstige Luft auf, und er war erneut nur eine Erscheinung. Ein ungläubiger Ausdruck stand im Gesicht des Talbewohners, und es sah aus, als wollte er ihr etwas mitteilen. Seine verdüsterte Gestalt schwebte noch einen Augenblick länger im Schummerlicht des Turms und war dann verschwunden.
Niedergeschlagen starrte Brin ihm hinterdrein. Nun begannen große Steinbrocken des Turmes um sie her herabzufallen, und sie wußte, daß sie nicht bleiben durfte. Mit der schwarzen Magie des Ildatch war es zu Ende, und alles, was aus ihm hervorgegangen war, starb nun.
»Aber ich werde weiterleben!« flüsterte sie leidenschaftlich.
Sie raffte ihren Umhang um sich, machte kehrt und lief aus dem leeren Raum.
46
Das Silberlicht flackerte über den im Becken des Himmelsbrunnens gesammelten Wassern auf, und ein ängstlicher Spinkser stolperte wieder einmal zurück. Eine hell blitzende Explosion ereignete sich mit der intensiven und blendenden Strahlung der Sonne, wie sie sich bei Morgendämmerung über den Horizont schiebt und den Rest der Nacht durchdringt. Sie zuckte durch die dunklen Schatten der Höhle, zersplitterte in weißes Feuer und war vorüber.
Spinkser zuckte zusammen, als er wieder zum Steinbecken blickte. Dort am Rand stand todmüde und zerschlagen Jair Ohmsford.
»Junge!« rief der Gnom mit einem Gemisch von Besorgnis und . Erleichterung in der Stimme, als er auf den Talbewohner zustürzte.
Jair sackte erschöpft nach vorn, und der andere fing ihn mit einem Griff um die Taille auf. »Ich konnte sie nicht herausholen, Spinkser«, wisperte er. »Ich habe es versucht, aber die Zauberkraft reichte nicht aus. Ich mußte sie zurücklassen.«