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Sie war erschöpft, ihre Kraft aufgezehrt durch den fortgesetzten Gebrauch des Wünschliedes und ihre lange Wanderung in den Maelmord. Sie hatte sich verirrt, und der Zauber konnte ihr nicht mehr den Weg weisen. Und rund herum erschütterten Erdbeben den Talboden und kündigten die Vernichtung des Maelmord und alles dessen an, was sich in ihm befand. Nur ihre Entschlossenheit blieb stark, und sie war es, die sie weiter nach einem Fluchtweg suchen ließ.

Plötzlich fiel der Boden vor ihren Füßen steil ab und sackte so unvermittelt in die Tiefe, daß es erschreckend war. Brin stolperte und wäre fast gefallen. Der Maelmord brach auf. Er zerfiel unter ihren Füßen, und sie begriff nun, daß sie mit ihm in die Tiefe gerissen würde.

Sie ging langsamer und kam erschöpft zum Stehen, um keuchend nach Atem zu ringen. Es war sinnlos weiterzugehen. Sie lief ziellos, blind und ohne jedes Orientierungsgefühl. Selbst der berühmte Zauber des Wünschliedes, sollte sie sich entschließen, ihn anzuwenden, konnte sie jetzt nicht retten. Warum hatte Jair sie im Stich gelassen? Warum war er gegangen? Enttäuschung überwältigte sie angesichts dieses schrecklichen Gefühls von Verrat — Enttäuschung und blinde Wut. Doch sie kämpfte dagegen an, weil sie sie als sinnlos und ungerecht erkannte. Jair hätte sie niemals zurückgelassen, würde er eine andere Wahl gehabt haben. Was immer ihn zu ihr geführt hatte, es hatte ihn einfach zurückgeholt.

Vielleicht war auch das, was sie für Jair gehalten hatte, gar nicht Jair, und was sie gesehen und empfunden hatte, nicht einmal real gewesen. Vielleicht hatte sie es in ihrem Wahnsinn geträumt...

»Jair!« schrie sie.

Das Echo ihrer Stimme brach sich am Poltern der Erde und war dann verhallt. Der Boden sackte weiter unter ihr ab.

Entschieden und starrsinnig machte sie kehrt und ging weiter. Sie rannte nicht mehr, zum Rennen war sie zu müde. Ihr dunkelhäutiges Gesicht verhärtete sich vor Entschlossenheit, und sie verdrängte alles aus ihrem Denken außer der Notwendigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie durfte nicht aufgeben. Sie war fest entschlossen, weiterzugehen. Und wenn sie nicht mehr aufrecht laufen könnte, würde sie kriechen. Aber sie würde ihren Weg fortsetzen.

Dann sprang plötzlich ein Schatten aus dem wirren Dunkeclass="underline" riesenhaft, geschmeidig und gespenstisch. Er kam auf sie zu, und sie schrie entsetzt auf. Ein mächtiger Kopf mit Schnurrhaaren rieb sich an ihrem Körper, und leuchtende, blaue Augen blinzelten sie zur Begrüßung an. Es war Wisper! Voll dankbarer Erleichterung ließ sie sich gegen die Moorkatze fallen, weinte rückhaltlos und schlang die Arme um den zottigen Hals. Wisper war sie holen gekommen!

Die Moorkatze drehte sich um, setzte sich wieder in Bewegung und zog sie mit. Sie krallte eine Hand in seine Mähne und stolperte hinterdrein. Sie schlüpften durch den Irrgarten des sterbenden Urwaldes. Rings umher wurde das Donnern lauter, und weitere Beben erschütterten die Erde. Verfaulte Baumstämme brachen um sie nieder. Aus Rissen, die sich in der harten Erde auftaten, schoß beißend und faul stinkender Dampf empor. Findlinge und Erdrutsche lösten sich von den Felswänden, die das Tal umschlossen, und kamen durch die Dunkelheit herabgepoltert.

Doch irgendwie erreichten sie den Croagh, dessen gewundener Verlauf unvermittelt aus der Dunkelheit heraus Gestalt annahm und vom Talboden in die Nacht aufstieg. Die Riesenkatze sprang auf die Treppe, Brin folgte ihr auf den Fersen. Das Talmädchen kletterte höher und ertastete sich unsicher seinen Weg, als das Rumpeln immer lauter wurde. Heftige Erschütterungen ließen den Croagh erzittern, von denen eine kurz auf die vorangegangene folgte. Brin wurde auf die Knie geschleudert. Unter ihr begann das Gestein aufzubrechen und zu splittern. Ganze Teile der Treppe brachen ab und stürzten in die Grube hinab. Noch nicht! schrie sie lautlos. Nicht, ehe ich oben bin! Wispers lautes Gebrüll übertönte das Gepolter, und sie hastete hinter dem großen Kater her. Unter ihnen barsten riesige Bäume wie Reisig. Das letzte Dämmerlicht erstarb, als die Sonne hinter den Horizont glitt, und das ganze Land war in Dunkelheit gehüllt.

Und dann erhob sich das Felssims wieder vor ihr, sie taumelte hinauf und weinte los, als die dunklen Schatten sie umringten. Arme streckten sich ihr entgegen, zerrten sie von den zerfallenden Stufen und fort von dem Abgrund. Kimber drückte und küßte sie, ihr Koboldgesicht strahlte vor Glück, und Tränen standen ihr in den Augen. Cogline brummelte und tupfte ihre Wangen mit einem schmutzigen Tuch ab. Und Rone war da, dessen schlankes, sonnengebräuntes Gesicht ausgezehrt und verschrammt war, doch seine grauen Augen strahlten vor Liebe. Er flüsterte ihren Namen, schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich. In diesem Augenblick begriff sie endlich, daß sie in Sicherheit war.

Wenige Augenblicke später stießen Spinkser und Jair zu ihnen, die auf ihrer verzweifelten Suche nach Brin vom Himmelsbrunnen den Croagh heruntergelaufen kamen. Es gab erstaunte Blicke und erleichterte Ausrufe. Dann fielen Brin und Jair sich wieder in die Arme.

»Also warst du das doch, der im Maelmord zu mir kam«, flüsterte Brin und streichelte über den Kopf ihres Bruders. Sie lächelte durch ihre Tränen hindurch. »Du hast mich gerettet, Jair.«

Jair erwiderte ihre Umarmung, um seine Verlegenheit zu überspielen. Rone trat hinzu und umschlang sie alle beide. »Bei der heiligen Katze, Tiger — wir dachten, du wärst in Shady Vale! Du hältst dich wohl nie an das, was man dir sagt?«

Spinkser hielt sich erst einmal etwas abseits und beäugte alle mit gespieltem Argwohn, angefangen bei den Dreien, die sich da unablässig umarmten und küßten bis hin zu dem spillerigen, alten Mann, dem Mädchen aus den Wäldern und der riesenhaften Moorkatze, die neben ihnen ausgestreckt lag. »Das ist der merkwürdigste Haufen, auf den ich jemals gestoßen bin«, brummelte er vor sich hin.

Dann zog das Poltern vom Talboden wie Donnergrollen durchs Berggestein, und die Erschütterungen ließen den ganzen Croagh bersten. Er stürzte in den Höllenschlund hinab und war verschwunden. Die ganze kleine Gesellschaft, die auf dem Felssims versammelt stand, eilte an den Rand und spähte durch die Finsternis hinab. Helle Flecken von Mond und Sternen sprenkelten die Dunkelheit. Schatten wogten, und die Hölle des Maelmord begann zu versinken. Sie sank hinab, tief in die Erde, als würde sie von Treibsand verschlungen. Erde, Gestein und sterbender Wald brachen in Stücke und gingen unter. Die Schatten wurden länger und zogen sich zusammen, bis das Mondlicht nicht mehr die geringste Spur dessen zeigen konnte, was einmal gewesen war. Innerhalb von Augenblicken hatte der Maelmord für immer zu existieren aufgehört.

47

Der Herbst war übers Land gekommen, und überall erstrahlten und glänzten die Farben der Jahreszeit im warmen Sonnenschein. Es war ein klarer, kühler Tag in den Ostlandwäldern, wo der Mangold-Fall aus dem Wolfsktaag herabschoß und der Himmel sich in tiefem Blau wölbte. Der Morgen hatte Frost gebracht, und schmelzender Rauhreif hing noch im hohen Gras, auf der harten Erde und den moosbewachsenen Steinen am Flußufer entlang und vermischte sich mit der Gischt von den schäumenden Wassern des Flußbettes.

Brin machte am Rand dieser Wasser halt, um ihre Gedanken zu sammeln.

Es war nun eine Woche her, daß die kleine Freundesgruppe das Rabenhorn verlassen hatte. Mit der Vernichtung des Ildatch, dem Untergang der schwarzen Magie und all jener Dinge, die sie hervorgebracht hatte, waren die Gnomen-Jäger, die Graumark verteidigt hatten, in die Berge Und die Waldgebiete des tiefen Anar geflüchtet — zurück zu den Stämmen, von denen man sie geholt hatte. So waren Brin, Jair und ihre Freunde allein in der Festung zurückgeblieben, hatten die Leichname des Grenzländers Helt, des Zwergen Elb Foraker und des Elfenprinzen Edain Elessedil gefunden und zur Ruhe gebettet. Nur Garet Jax hatten sie zurückgelassen, wo er gestorben war, denn mit der Zerstörung des Croagh war jeglicher Zugang zum Himmelsbrunnen abgeschnitten. Vielleicht war es richtig, daß der Waffenmeister dort blieb, wo kein anderer Sterblicher jemals einen Fuß hinsetzen könnte, hatte Jair feierlich erklärt. Vielleicht sollte es für Garet Jax im Tode nicht anders sein als im Leben.