Martin sah sie an und kniff sich dann verlegen in die Oberlippe. »Yeah«, sagte er, »ich glaube wirklich, daß du es vielleicht unter Umständen schaffen kannst. Caroline, du hast dich verändert.«
»Ich weiß«, sagte Caroline. »Vielleicht liegt es an Rom, oder an meiner zehnten Tötung, oder an beidem. Vielleicht ist aber auch etwas ganz anderes schuld. Ich bleibe mit euch in Verbindung, Jungs.«
Sie drehte sich um und verließ stolz den Borghia-Ballsaal.
9
Marcello Polettis Apartment wirkte so hell, chic und unbeständig wie Poletti selbst. Die Möbel waren niedrig, komfortabel, harmonisch und angenehm fürs Auge – obwohl sie sich, genau wie ihr Besitzer, keiner bestimmten Periode oder Stilrichtung zuordnen ließen, und von zweifelhaftem Wert waren. Es gab drei innere Treppen; eine führte zu einer Terasse, eine andere zu einem Schlafzimmer, und die dritte endete, da sie ihre Bestimmung noch nicht gefunden, vor einer kahlen, weißen Wand. Das war, um eine bereits überbeanspruchte Analogie noch weiter zu strapazieren, ebenfalls ein Symbol für Polettis Charakter.
Poletti selbst lag ausgestreckt auf einer eleganten, karmesinroten Couch. Er hatte einen kleinen, roten und blauen Spielzeugaffen auf der Brust (transistorgesteuert; wiederaufladbare Batterie; fünf Jahre Garantie; abwaschbar; Freude für die ganze Familie!). Er kraulte den Affen geistesabwesend hinter dem Ohr, und das Spielzeugtier zuckte und schnatterte. Marcello hörte auf, es zu kraulen, und machte Atemübungen. Aber nach drei Inhalations-Exhalations-Zyklen gab er es auf, denn wie so viele andere Dinge, erzeugte es bei ihm Benommenheit und eine leichte Übelkeit. Außerdem war er sich bewußt, daß er schon froh sein mußte, überhaupt noch atmen zu können. In seiner Situation waren Atemübungen vermessen, denn sie fußten auf der Illusion, daß genügend Zeit zum Atmen vorhanden war.
Er lächelte schwach; er hatte einen Aphorismus geschaffen, vielleicht sogar einen Lehrsatz.
Marcello gegenüber stand ein Fernseher in einer Wandnische. Neben Marcello stand ein Couchtisch; auf dem Tisch befanden sich sechs Bücher, eine Zeitung, 15 Comic-Hefte, eine Flasche Whiskey, zwei schmutzige Gläser, eine Smith und Wesson (Modell XCB3, bekannt als Der Rächer), geladen, aber ohne Schlagbolzen. (Er hatte vorgehabt, ihn wieder befestigen zu lassen). Auf dem Tisch lag außerdem ein raffinierter, kleiner, einschüssiger Derringer, der nur 1,2 Inch lang war, sich ausgezeichnet verstecken ließ und bis zu einer Entfernung von drei Fuß zielgenau war. Neben dem Derringer lagen zwei andere Pistolen von zweifelhafter Form und Fähigkeit. Um die südöstliche Ecke der Couch war eine kugelsichere Weste drapiert, das neueste Modell, vor zwei Jahren hergestellt von Hightree & Ouldie, Hoflieferant Ihrer Majestät, der Königin. Die Weste wog 20 Pfund und hielt jeder Patronenmunition stand, mit Ausnahme der neuen Super Penetrex 9 mm Magnum, die im vergangenen Jahr von Marshlands of Fiddler’s Court, Hoflieferant Seiner Majestät, des Königs, entwickelt worden war. Die Super Penetrex war jetzt die Standartmunition aller Jäger.
Neben der Weste lagen drei zerknüllte Zigarettenschachteln und eine halbvolle Schachtel Regies. Und schließlich stand noch eine halbleere Tasse Kaffee auf dem Couchtisch.
Das vorprogrammierte Fernsehgerät schaltete sich selbsttätig ein. Die Internationale Jagdstunde lief, eine Sendung, die man einfach sehen mußte, um zu erfahren, wer wen getötet hatte, und wie.
Die heutige Show wurde aus Dallas, Texas, übertragen; in dieser Stadt war der Anteil der Jagdvögel (wie die Jagd-Spieler liebevoll genannt wurden) an der Bevölkerung so groß wie in keiner anderen Metrolpole der Erde. Aus diesem Grund war Dallas auch als Das Mörderparadies bekannt und galt als Mekka für die Freunde der Gewalt.
Der Sprecher war ein sanfter, freundlich ausschauender junger Amerikaner. Er redete mit jener Mischung aus natürlicher Freundlichkeit und ungezwungener Vertraulichkeit, die so schwer nachzuahmen ist und so leicht Mißfallen erregt.
»Hallo, Leute«, sagte er, »und ein besonders herzliches Hallo all den aggressiven Jungs und Mädchen, die die Jäger und Opfer der Zukunft sein werden. Für euch habe ich eine ganz besondere Botschaft, Kinder, denn ich bin da auf ein ganz heißes Problem aufmerksam geworden. Also, ohne moralisieren zu wollen, Kinder, möchte ich euch einfach daran erinnern, daß es moralisch falsch ist, wenn ihr eure Eltern tötet, auch wenn ihr dafür noch so gute Gründe zu haben glaubt; es ist außerdem auch noch ungesetzlich. Also Kinder, tut es bitte nicht; das ist mir ein ganz besonderes Anliegen. Geht zu eurem Turnlehrer. Er wird für euch einen Kampf arrangieren, mit einem Gegner, der euch an Größe und Gewicht ebenbürtig ist; einen Kampf mit Gummiknüppel, Cestus oder Streitkolben, je nach eurem Alter und eurer Schulbildung.
Natürlich ist das kein vollwertiger Ersatz; ich weiß genau, daß viele von euch Grünschnäbeln glauben, ein paar gebrochene Knochen oder eine Gehirnerschütterung seien nichts besonderes. Aber glaubt mir, es ist ein wirklich guter Sport. Er hilft euch, einen gesunden, durchtrainierten Körper und schnelle Reflexe zu bekommen, und er baut diese dummen Aggressionen ab. Ich weiß, daß viele von euch Jungs und Mädels glauben, daß es nur ein Gewehr oder eine Granate wirklich bringen; aber das kommt nur daher, daß ihr noch nie was anderes ausprobiert habt. Und ich bitte euch zu bedenken: die alten römischen Gladiatoren kämpften mit dem Cestus, und niemand hielt sie deshalb für Schlappschwänze. Die Ritter des Mittelalters schwangen den Streitkolben, und niemand lachte über sie. Also, wie sieht’s aus, Kinder? Wollt ihr’s nicht mal probieren?«
Poletti murmelte: »Ich wünschte, ich wäre wieder Kind.«
»Das bist du sowieso«, sagte die düstere Stimme oben auf der zweiten Treppe.
Poletti drehte sich nicht um; es war nur Olga, die leise vom Schlafzimmer herunterkam.
»Und hier sind weitere Nachrichten aus der Welt der Jagd«, sagte der Sprecher gerade. »In Indien wurde das Wiederaufleben des alten Thuggee-Kultes heute vom Außenministerium in Neu-Delhi offiziell bestätigt. Ein Sprecher der Regierung sagte…«
»Marcello«, sagte Olga.
Poletti wedelte ungeduldig mit der Hand. Auf dem Fernsehschirm war eine Panoramaaufnahme von Bombay zu sehen.
»… daß Thuggee, das jahrhundertealte Verfahren, Menschen mit einer Seidenschärpe, oder in Fällen extremer Armut mit einer Baumwollschärpe zu strangulieren…«
»Marcello«, sagte Olga wieder, »es tut mir so leid.«
Sie war die Treppe halb hinuntergestiegen und stützte sich schwer auf das Geländer.
»… eine der wenigen Tötungsformen sei, die von Menschen aus allen Schichten angewandt werden könne und nicht gegen das in vielen großen Religionen bestehende Verbot des Blutvergießens verstoße.
Verschiedene buddhistische Gruppen in Burma und auf Ceylon haben bereits ihr Interesse an diesem Verfahren bekundet, während ein Sprecher des Kreml von – ich zitiere – ›bloßer Spitzfindigkeit‹ sprach. Dieser Ansicht wurde von einem Sprecher der Chinesischen Volksregierung widersprochen, der laut einer Meldung der Neuchina-Presseagentur die Thuggee-Schärpe (oder das Tsingtao-Halstuch, wie er es nannte) als eine echte Waffe des Volkes bezeichnete…«
»Marcello!«
Widerwillig wandte Poletti den Kopf und sah, daß Olga den Fuß der Treppe erreicht hatte. Medusenhaft schlängelte sich ihr gelöstes schwarzes Haar auf ihren Schultern; ihr Mund war karmesinrot gefärbt und nach der neuen Python-Mode schraffiert; und ihre großen, schwarzen, fragenden Augen waren blicklos und matt geworden, wie die Augen einer Wölfin, der man in die Eingeweide geschossen hatte.
»Marcello«, fragte sie, »kannst du mir jemals verzeihen?«