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»Selbstverständlich«, sagte Mareello sofort und wandte sich wieder dem Fernseher zu.

»Unterdessen eröffnete Brasiliens Präsident Gilberte den Teil 2 der Olympischen Spiele mit einer feierlichen Ansprache. Er sagte vor Millionen von Zuschauern im Rio-Zentral-Stadion, daß die Jagd, als bestmögliche Form der seelischen Reinigung, noch nicht für alle Menschen erschwinglich sei; während die olympischen Gladiatorenkämpfe, als zweitbeste Form der seelischen Reinigung, allen Bevölkerungsschichten zugänglich seien. Er wies außerdem darauf hin, daß der Besuch der Kämpfe für alle diejenigen, die die massenmordenden Kriege der Vergangenheit aufrichtig ablehnten, erste Bürgerpflicht sei. Seine Rede wurde mit respektvollem Applaus bedacht. Der erste Wettkampf des heutigen Tages war das Freistil-Streitaxtduell zwischen Antonio Abruzzi, dem dreimaligen Europameister in dieser Disziplin, und dem populären finnischen Linkshänder Aesir Drngi, der im letzten Jahr das nordeuropäische Semifinale gewann. Große Aufregung entstand, als…«

»Ich konnte nicht anders«, sagte Olga. Ihre Knie gaben nach und ihre Hand, die das Treppengeländer umklammerte, erlahmte. »Es tut mir leid, Mareello… so leid.« Das Geländer entglitt ihrer rechten Hand. Aus ihrer linken Hand fiel ein ominöses braunes Fläschchen von unheilvoller Form und offensichtlicher Bedeutung. Poletti erkannte es sofort; es war das Fläschchen, in dem Olga ihre Schlaftabletten aufbewahrte – oder jedenfalls bislang aufbewahrt hatte, denn das braune Fläschchen rollte entstöpselt und leer über den Fußboden.

Es war für jedermann offensichtlich, daß Morpheus eine verhängnisvolle Allianz mit seinem Bruder Thantos eingegangen war.

»Ich habe eine Überdosis Schlaftabletten genommen«, sagte Olga, für den Fall, daß Marcello noch nicht begriffen hatte. »Ich nehme an… ich nehme an…« Ihre Stimme versagte, und das arme Mädchen sank auf den maulwurffarbenen Teppich.

»… im Breitschwertkampf der Grieche Nicholai Groupopolis überlegen gewann. Er versetzte seinem Gegner, dem tapferen aber chancenlosen Franzosen Edouard Comte-Couchet, den Todeshieb in Form eines angeschrägten Rundschwingers. Im Mittelgewichtswürgen sorgte Kim Sil Kul aus der Republik Zentralkorea für eine Überraschung.«

»Entschuldige bitte«, sagte Poletti und blickte schuldbewußt vom Fernseher auf. »Hast du gesagt, du kannst nicht einschlafen?«

»Im Doppelstilett klassisch, Gruppe B, kam es zu einem Unentschieden zwischen Juanito Rivera aus Oaxaca, Mexico, und Giulio Carerri aus Palermo, Sizilien, während im…«

»Ich habe gesagt«, sagte Olga mit schwacher, aber deutlicher Stimme, »daß ich eine Überdosis Schlaftabletten genommen habe; Barbiturate, um genau zu sein.«

»… beim Granatwerfen besiegte im Mittelgewicht Michael Bornstein aus Nebraska, obwohl ihm bereits eine Schulter abgerissen worden war, seinen Gegner, der…«

»Und außerdem«, sagte Olga, »es tut mir überhaupt nicht leid, außer für dich, Marcello. Denn du hast mich mit deiner Gleichgültigkeit während der vergangenen zwölf Jahre zu dieser Tat getrieben. Und du wirst, falls auch nur ein Funken Gewissen irgendwo in deiner schwieligen Seele verborgen ist, schlimmere Schmerzen erdulden müssen als ich jetzt. Eines Tages wirst du zu der Erkenntnis gelangen, daß Passivität eine verdrehte Form von Aktivität ist, und daß Unaufmerksamkeit eine pervertierte Form von Aufmerksamkeit ist; und wenn dieser Tag kommt, dann…«

»Olga«, sagte Poletti.

»Ja«, sagte Olga, und ihre Stimme war über ihre Cheyne-Stokes-Atmung hinweg kaum zu hören.

»Ich habe gestern vergessen, dein Schlaftabletten-Fläschchen in der Apotheke auffüllen zu lassen.«

Olga stand graziös auf, fand auf einem Tisch Zigaretten und zündete sich eine an. Sie nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch zur Decke und sagte: »Marcello, du tust nie auch nur das geringste für mich. Du bist doch gestern an der Apotheke vorbeigekommen.«

Poletti zog die Stirn kraus. Er hatte immer schon Olgas Fähigkeit bewundert, sich von keiner noch so peinlichen Situation in Verlegenheit bringen zu lassen.

»… und in der Sonderdisziplin für gepanzerte Fahrzeuge erzielte ein Aston Martin Vulcan 5 einen hervorragend plazierten – oder sehr glücklichen – Eröffnungstreffer bei dem favorisierten Mercedes Benz Totenkopf 32.«

Olga schlenderte hinüber zu einer Vase mit künstlichen Rosen, die sie mit ein paar geschickten, flinken Bewegungen scheußlich arrangierte. Sie machte beinahe alles mit Stil, wenn sie auch beinahe alles falsch machte.

»Marcello«, sagte sie mit der fröhlichen, scherzhaften Stimme, die sie nur bei äußerst ernsten Angelegenheiten benutzte, »warum heiraten wir nicht? Es wäre bestimmt sehr lustig – wirklich, Marcello.«

»Ich bin schon verheiratet«, sagte Marcello.

»Aber wenn du es nicht wärst?«

»Dann könnten wir uns mit dieser Frage wesentlich realistischer auseinandersetzen«, erwiderte Poletti mit der automatischen Vorsicht von jemandem, der seit 12 Jahren mit der gleichen Geliebten zusammen ist.

Olga lächelte traurig und ging die Treppe zur Terrasse hinauf. Als sie fast oben angelangt war, drehte sie sich um und sagte: »Ich glaube nicht, daß du überhaupt noch verheiratet bist. Deine Ehe ist doch annulliert, nicht wahr, Marcello?«

»Leider nicht«, antwortete Poletti mit der ernsten, aufrichtigen, männlichen Stimme, die er nur für ganz faustdicke Lügen benutzte. »Die Behörden lassen sich bei solchen Angelegenheiten nicht drängen. Wie es aussieht, wird sie wohl nie annulliert werden.«

»Sie ist schon annulliert! Gib’s zu!«

Marcello wandte sich ab und spielte mit seinem kleinen elektronischen Spielzeugtier, das ihn an ihn selbst erinnerte. Auf dem Fernsehschirm war gerade die dritte Runde eines Mord-Turniers zu sehen: sechs Mann auf jeder Seite, mit Rapier und Lederrüstung. Die Spanier waren in diesem Kampf den Deutschen klar überlegen.

Olga stieg eine weitere Stufe hinauf und erreichte die schwere Terrakotta-Vase, die sie am Vortag dort hingestellt hatte. Der Anblick der Vase und des gleichgültigen, lässig daliegenden Poletti brachte sie in Rage. »Biest! Schwein! Ochse!« schrie sie. Sie hob die Vase auf, schwankte einen Augenblick unter ihrem Gewicht und warf sie dann.

Poletti machte sich nicht die Mühe, auszuweichen. Die Vase verfehlte seinen Kopf um ein oder zwei Inch und zerbarst auf dem Fußboden. Die arme Olga verfehlte immer alles: Ziele, wahre Liebe, Ehemänner, Parties, Einladungen zum Essen, Sitzungen bei ihrem Analytiker – einfach alles. Dr. Hoffhauer hatte ihr gesagt, sie sei eine extreme Masochistin, die ihre selbstzerstörerischen Neigungen durch pseudospontane sadistische Impulse zu kompensieren trachte. Natürlich gestattete ihr übersteigerter Todeswunsch es ihr nicht, diese sadistischen Handlungen erfolgreich auszuführen. Das sei sehr schlimm. Poletti aber, war der Doktor fortgefahren, gehe es (nach dem zu urteilen, was sie über ihn erzählt habe) noch viel schlechter, denn sein Todeswunsch werde durch keinerlei sadistische Triebe gezügelt.

Die Internationale Jagdstunde war zu Ende, und der Fernseher schaltete sich aus. Poletti, unbekümmerter Besitzer eines hypotetisch unkompensierten Todeswunsches, stand auf, bürstete sich Terrakotta-Staub aus den Haaren und ging zur Tür.

»Wohin willst du?« fragte Olga anklagend.

»Ich gehe spazieren«, sagte Poletti sanftmütig.

»Wohin spazieren?«

»Einfach nur spazieren.«

»Dann nimm mich mit.«

»Das geht nicht«, sagte Poletti. »Ich gehe zum Jagdklub. Dort haben nur offiziell anerkannte Jäger und Opfer Zutritt.«

»Jeder hat dort Zutritt!«

»Nicht in Klubraum Nr. 1«, sagte Poletti. »Und dorthin genau gehe ich.«

»Aber du hast doch eben gesagt, du gingst einfach nur spazieren.«

»Ich gehe spazieren«, sagte Poletti. »Aber nachdem ich spazierengegangen bin, gehe ich zum Jagdklub.«