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»Bestimmt wird er das!« erscholl es aus vielen tausend Kehlen. Poletti lächelte traurig. »Und wenn er zurückkehrt – werden wir dann hier sein, um in seinem lebensspendenden Glanz zu baden?«

»Wer vermag schon zu sagen, ob diese Worte wahr sind?« antwortete das Publikum sofort.

»Ja, wer?« antwortete Poletti auf diese Antwort. »Und doch können wir Trost finden, wenn wir daran denken, daß unser geliebter Vater in Wahrheit überhaupt nicht verschwunden ist; sogar jetzt befindet er sich lediglich auf einer dringenden Reise nach Los Angeles.«

Die Sonne verschwand hinter den Wellen des Ozeans. Die meisten Zuschauer weinten, mit Ausnahme einiger weniger, die über die verschiedenen Aspekte der Lehre von der Pseudonähe der Sonne diskutierten. Sogar Caroline schien gerührt zu sein. Poletti selbst brach in Tränen aus, als er zum Schlußteil seiner Rede kam, den er in demotischem Griechisch hielt.

Es war jetzt ganz dunkel; und so verließ Poletti, begleitet von einem Gemisch aus Hochrufen und Flüchen das Podium.

Eine Hand berührte ihn in der Dunkelheit. Es war Caroline, der die Tränen über die Wangen rollten.

»Marcello, es war so wundervoll!« sagte sie.

»Ich glaube, es war gut«, sagte Poletti, immer noch weinend, »wenn man Sonnenuntergänge mag.«

»Mögen Sie denn keine?«

»Nicht besonders«, sagte Poletti. »Aber ich bin nun einmal im Sonnenuntergangs-Geschäft tätig.«

»Aber Sie weinen doch!« wunderte sich Caroline.

»Eine durch Drogen herbeigeführte Reaktion«, erklärte Poletti ihr. »Es ist gleich vorüber. In diesem Geschäft muß man Gefühle wecken können, und das ist schwierig, wenn man selbst keine hat. Aber das gehört halt zum Geschäft.«

»Wie läuft denn dieses Geschäft?« fragte Caroline.

»Es lief mal viel besser«, sagte Poletti. »Aber heutzutage…« Er brach ab und sah sie an. »Aber warum fragen Sie? Ist das ein Interview oder bloße Neugierde?«

»Oh, beides, nehme ich an.«

»Wollen Sie mich denn immer noch interviewen?« fragte Poletti unvermittelt.

»Natürlich will ich das«, sagte Caroline.

»Na gut«, sagte Poletti, »dann werde ich es machen. Gegen angemessene Bezahlung, versteht sich.«

»Sagen wir, dreihundert Dollar«, schlug Caroline vor.

Poletti sah sie mitleidig an und ging in Richtung seiner Baracke davon. Caroline folgte ihm und sagte: »Fünfhundert?«

Poletti ging weiter. In einem Anflug von Verzweiflung bot ihm Caroline tausend Dollar.

Poletti blieb stehen. »Wie lange würde es dauern?«

»Eine Stunde, höchstens zwei.«

»Wann?«

»Morgen früh, um zehn Uhr im Colosseum.«

»In Ordnung«, sagte Poletti, »Ich denke, dann werde ich abkömmlich sein. Aber vielleicht sollten Sie eine Anzahlung leisten, um sicherzugehen.«

Verblüfft öffnete Caroline ihre Handtasche, nahm eine zerknitterte 500-Dollar-Note heraus und gab sie ihm. Poletti nahm seine Perücke ab und öffnete ein kleines Geldtäschchen in ihrem Futter. Er stopfte den Geldschein hinein, zog den Reißverschluß zu und sagte kühclass="underline" »Danke. Bis später.«

Dann ging er in seine Baracke.

15

Poletti zog wieder seine Straßenkleidung an. Dann saß er zehn Minuten lang da und betrachtete seinen rechten Zeigefinger. Nie zuvor hatte er bemerkt, daß dieser volle zwei Zentimeter länger war, als sein rechter Ringfinger. Die Entdeckung dieser Asymmetrie hätte ihm zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht ein gewisses verschrobenes Vergnügen bereitet, nun aber ärgerte er sich nur darüber. Und dieser Ärger wiederum deprimierte ihn und erzeugte in seinem Kopf Bilder von Finger-Guillotinen, scharfkantigen Beilen, Schlangengruben, blutbeschmierten Rasierklingen…

Er schüttelte heftig den Kopf, riß sich zusammen und schluckte eine kräftige Dosis Infradex, eine Droge, die dazu diente, Drogenreaktionen zu lindern. Schon nach einigen Sekunden hatte er wieder sein altes, gewohntes, depressives Selbst. Das hob seine Stimmung beträchtlich, und er verließ die Baracke in einer Gemütsverfassung, die beinahe an Gleichmut grenzte.

Draußen, in der ihn umgebenden Dunkelheit, berührte etwas oder jemand ihn am Ärmel. Polettis blitzschnelle Reflexe übernahmen die Kontrolle, und wie ein Wirbelwind führte er Verteidigungsmanöver Drei, Teil 1, aus. Gleichzeitig schoß seine rechte Hand vor wie eine zustoßende Puffotter, griff zum Pistolenhalfter. Unglücklicherweise stolperte er über eine Zypressenwurzel. Seine Hand verfehlte den Pistolengriff um ganze 1,6 Zentimeter. Statt dessen zerriß er sich das Jackett und schlug der Länge nach hin.

Das war es also, dachte Poletti. Ein unachtsamer Augenblick, und der lange erwartete Tod kam endlich – unerwartet! In diesem Moment der Agonie wurde Poletti, hilflos auf dem gleichgültigen Boden liegend, klar, daß es unmöglich war, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten. Der Tod besaß zu viel Erfahrung darin, Menschen überraschend zu holen, ihre Absichten zu durchschauen und ihre Posen zunichte zu machen.

Alles, was einem übrigblieb, war in Würde zu sterben. Daher wischte Poletti sich einen Tropfen Speichel von den Lippen, unterdrückte einen unwürdigen Rülpser und fügte sich mit ironischem Lächeln in sein Schicksal.

»Gütiger Himmel«, sagte Caroline, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Haben Sie sich weh getan?«

»Alles bis auf meine Selbstachtung ist unversehrt«, sagte Poletti, stand auf und klopfte sich den Staub aus der Kleidung. »Sie sollten sich nicht in dieser Weise auf ein Opfer stürzen; das hätte tödlich für Sie enden können.«

»Möglicherweise«, erwiderte Caroline, »wenn es Ihnen gelungen wäre, Ihre Pistole zu ziehen, ohne dabei hinzufallen. Sie sind ein bißchen ungeschickt, nicht wahr?«

»Nur wenn ich das Gleichgewicht verliere«, sagte Poletti würdevoll. »Würden Sie mir bitte verraten, warum Sie sich hier herumtreiben?«

»Das ist etwas schwierig zu erklären«, sagte Caroline.

»Ich verstehe«, sagte Poletti und lächelte zynisch.

»Nein, nicht was Sie denken.«

»Natürlich nicht«, sagte Poletti und lächelte noch zynischer.

»Ich möchte mich ganz einfach mit Ihnen unterhalten.«

Poletti nickte ironisch und lächelte am zynischsten; doch dann zuckte er, weil er extreme Positionen verabscheute, die Achseln und sagte mit nüchterner Stimme: »Gut, meinetwegen. Unterhalten wir uns.«

Sie spazierten gemeinsam über den seichten Uferstreifen des Sandstrandes, zwischen Luv und Lee, entlang des silbergrauen Halbmondes der Bucht. Es herrschte Zwielicht; hinter ihnen war der östliche Himmel blauschwarz, wie eine große, verfärbte Beule am weichen, weißen Unterleib des Himmels. Im Westen wurde das verblassende Abendrot unaufhaltsam in die stählernen Wellen des Tyrrhenischen Meeres hinabgezogen. In der emporkriechenden Finsternis im Süden funkelten bereits erste Sterne.

»Nein, wie hübsch diese Sterne sind«, sagte Caroline ungewohnt schüchtern. »Besonders dieser komische kleine dort oben links.«

»Das ist U. Cephei«, sagte Poletti. »Eigentlich ist es ein Doppelstern, dessen Hauptstern zum Spektraltyp B gehört, was auf eine Oberflächentemperatur von zirka 15000 Grad schließen läßt.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Caroline und setzte sich auf den feinen Sand.

»U. Cepheis kleiner Begleiter«, fuhr Poletti fort, »hat nur eine Oberflächentemperatur von sechstausend Grad, plusminus ein paar Grad.« Er setzte sich neben sie.

»Das ist irgendwie traurig«, sagte Caroline.

»Ja, irgendwie ist es das wohl«, sagte Poletti. Er fühlte sich seltsam beschwingt. Vielleicht lag das daran, daß der Stern, den er so unbekümmert als U. Cephei identifiziert hatte, in Wahrheit Beta Persei war, auch bekannt als Algol, der Dämonenstern, dessen herbstlicher Effekt auf gewisse Gemüter zu hinreichend bekannt ist, um hier noch der Erwähnung zu bedürfen.