»Keine Sorge«, sagte er zu Gino. »Sie kommt morgen früh um neun zu einer Probe in meine Baracke. Das würde sie wohl kaum tun, wenn sie mich verdächtigte, sie zu verdächtigen.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Gino. »Ich weiß nur, daß die Ehrlosigkeit der Frauen sprichwörtlich ist.«
»Das sagtest du bereits«, entgegnete Poletti. »Aber das gleiche gilt für die Ehrlosigkeit der Männer. Es wird alles verlaufen, wie ich es geplant habe. Ich wünsche nur, sie wäre weniger liebenswert.«
»Die Lieblichkeit der Frauen«, sagte Gino, »macht uns wehrlos gegen ihr ehrloses Tun.«
»So ist es wohl«, sagte Poletti. »Na, jedenfalls fahre ich jetzt zurück zu meiner Baracke. Ich brauche etwas Schlaf. Kümmere du dich darum, daß Vittorio sich mit den Vorbereitungen beeilt.«
»Mach ich«, sagte Gino. »Gute Nacht, Marcello – und viel Glück.«
»Gute Nacht«, sagte Marcello.
Sie gingen. Marcello stieg in seinen Wagen und fuhr zurück zum Strand, und Gino ging zum nächstgelegenen Cafe, das die ganze Nacht geöffnet hatte.
Und nun endlich war das Colosseum verlassen. Der Mond war verschwunden, und alles war in Finsternis gehüllt. Dünner Nebel stieg auf, und schemenhafte Gestalten schienen sich über den blutgierigen Sand zu bewegen wie die Geister schon lange toter Gladiatoren. Ein Windhauch seufzte über den leeren Sitzen wie die Stimme eines schon lange toten Kaisers, der seufzte: »Tötet ihn!« Und dann konnte man in der undurchdringlichen Finsternis im Osten das erste Leuchten des Morgenhimmels ausmachen.
Ein ungewisser neuer Tag brach an.
18
In seiner Fertigbaracke schlief Marcello tief und fest. Das leise Quietschen der Schnarniere, als die Tür der Baracke vorsichtig geöffnet wurde, hörte er nicht. Auch sah er den langen, seltsam geformten Gewehrlauf nicht, der durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür geschoben wurde.
Der Gewehrlauf zielte auf Polettis Kopf. Ein leises Zischen ertönte, und eine kaum sichtbare Gaswolke entwich aus der Gewehrmündung. Sofort wurde Polettis Schlaf noch tiefer.
Ein paar Sekunden vergingen, und dann betrat Caroline die Baracke. Sie berührte Poletti sanft an der Schulter, schüttelte ihn dann. Poletti rührte sich nicht. Caroline ging zurück zur Tür und winkte. Dann kam sie zurück in den Raum und setzte sich neben Poletti aufs Bett.
Die Baracke begann zu zittern und zu beben. Sie neigte sich stark zur Seite, und Caroline mußte Poletti festhalten, sonst wäre er auf den Fußboden gefallen. Nach ein paar Augenblicken hörte die Hütte auf, sich zu bewegen.
Poletti schlief immer noch. Caroline ging zur Tür und öffnete sie. Sie konnte die Straßen Roms vorübergleiten sehen. Das wäre vermutlich ein beängstigender Anblick gewesen, wenn sie nicht gewußt hätte, daß die Baracke, mit ihr und Poletti darin, auf der Ladefläche eines Lastwagens festgezurrt war, der von Martin geradewegs ins Colosseum gefahren wurde. Es war genau 8 Uhr 46. Caroline durchsuchte die Baracke und setzte sich dann neben Poletti.
Ungefähr eine halbe Stunde später regte Poletti sich, rieb sich die Augen und setzte sich auf. »Wie spät ist es?« fragte er Caroline.
»Neun Uhr zweiundzwanzig«, sagte Caroline.
»Dann habe ich wohl verschlafen, fürchte ich«, sagte Marcello.
»Das macht nichts.«
»Haben wir denn noch genug Zeit für die Probe?« fragte Poletti.
»Ich bin sicher, es wird auch ohne die Probe klappen«, sagte Caroline. Ihr Gesicht war hart, und sie sprach leise, ohne Betonung. Sie wandte sich von Poletti ab und schminkte sich mit Hilfe einer winzigen Puderdose das Gesicht.
Poletti gähnte und griff nach dem Telefon. Dann bemerkte er, daß das Kabel durchschnitten war. Caroline beobachtete ihn in ihrem kleinen Schminkspiegel. Poletti streckte sich, scheinbar unbekümmert, und griff nach seiner Jacke, die neben dem Bett über einem Stuhl hing. Er nahm Zigaretten und Streichhölzer heraus und klopfte gegen die Brusttasche. Sein Revolver war nicht mehr da.
Während er seine Zigarette anzündete, lächelte er Caroline freundlich zu. Als sie darauf nicht reagierte, legte er sich zurück aufs Bett, nahm einen tiefen Lungenzug, drehte sich auf die Seite und fand seinen kleinen elektrischen Affen auf dem Fußboden. Er spielte eine Weile damit, stand dann plötzlich auf und zog eine Hose und ein Sporthemd an. Er legte sich wieder auf das Bett und hob den Affen auf.
Caroline sah ihm noch immer nicht ins Gesicht. Sie beobachtete ihn weiterhin in ihrem Schminkspiegel.
Poletti streckte sich wieder auf dem Bett aus: »Weißt du, woran ich gerade gedacht habe?« fragte er sie. »Ich habe mir gedacht, warum gehen wir nicht einfach fort von hier – nur wir beide allein. Wir hätten bestimmt ein wundervolles Leben, Caroline. Wir könnten sogar heiraten, wenn du das für unbedingt nötig hältst.«
Caroline klappte ihre Puderdose zu und sah ihn an. Sie hielt die Puderdose in der Hand, ihr Finger schwebte über dem schwarzen Scharnier. Es war zweifellos eine Waffe, entschied Poletti. Heutzutage war es schwer, etwas zu finden, das keine Waffe war.
»Du bist an meinem Angebot nicht interessiert?« fragte Poletti.
»Ich finde deine Lügen nicht sehr amüsant«, entgegnete Caroline.
Poletti nickte und spielte mit seinem elektrischen Affen. »Vielleicht hast du recht«, sagte er. »Ich habe in meinem Leben schon zu oft gelogen und betrogen. Nicht, weil es mir Spaß macht, zu lügen, das versichere ich dir; schuld waren allein – die Umstände. Aber zu dir will ich aufrichtig sein, Caroline. Ich kann die Wahrheit sagen. Vielleicht kann ich dir meine Aufrichtigkeit sogar beweisen.«
Caroline schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät.«
»Ganz gewiß nicht«, sagte Poletti. »Ich habe Freunde, die sich für meinen Charakter verbürgen können. Zum Beispiel…« er hielt den elektronischen Affen hoch »… Tommaso; hast du ihn schon kennengelernt?«
»Es paßt zu dir, daß du einen solchen Bürgen für deinen Charakter anführst«, sagte Caroline.
»Tommaso ist ein sehr wahrheitsliebendes kleines Biest«, sagte Poletti. Er stellte das Tier auf den Fußboden und drehte ihn in Carolines Richtung. Der elektronische Affe hoppelte zu ihr hinüber und versuchte, an ihrem Bein emporzuklettern.
»Ich bin nicht an ihm interessiert«, sagte Caroline.
»Das ist aber nicht fair von dir. Sieh nur, wie anhänglich er ist. Ich glaube, er mag dich. Tommaso ist sehr wählerisch, was seine Freunde angeht.«
Caroline lächelte sichtlich gequält. Dann hob sie den Affen hoch und setzte ihn sich auf den Schoß.
»Streichle ihn«, schlug Poletti vor. »Und tätschele auch einmal seine Nase. Das mag er besonders.«
Caroline drehte das Tier herum. Dann klopfte sie ihm behutsam auf die Nase.
Das elektronische Tier hörte abrupt auf, sich zu bewegen. Zugleich öffnete sich eine Klappe in seiner Brust und enthüllte einen schweren Revolver, der dahinter verborgen gewesen war.
»Hast du das gewußt?« fragte Caroline.
»Natürlich«, sagte Poletti. »Genauso wie ich weiß – daß du mein Jäger bist.«
Caroline starrte ihn an, das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.
»Ich gebe dir diesen Revolver als Beweis meiner Aufrichtigkeit«, sagte Poletti. »Als Beweis, daß ich mit dir leben möchte… daß ich dich nicht töten will.«
Caroline biß sich auf die Lippe. Ihr Gesicht wurde starr, und ihre Hand umfaßte den Revolver in dem elektronischen Affen.
In diesem Augenblick erzitterten die Wände der Baracke heftig und erhoben sich dann langsam in die Luft. Caroline schenkte diesem ungewöhnlichen Anblick keinerlei Beachtung. Sie beobachtete angespannt Polettis Gesicht. Poletti dagegen beobachtete mit sichtlicher Freude, wie die Wände sich Stück für Stück hoben und den Blick auf die Ruinen des Colosseums freigaben.