»Es ist wunderbar, Caroline«, sagte er. »Es ist einfach unbeschreiblich.«
Nun wurde das Oberteil der Baracke ganz weggehoben. Als Poletti nach oben blickte, sah er, daß die Wände von einem Hubschrauber in süd-südwestlicher Richtung davongetragen wurden, an einem einseiligen Nylorex-Kabel hängend. Der Hubschrauber war in Rot, Weiß und Beige lackiert – den Farben der UUU Teleplex-Fernsehanstalt. Und rings um Poletti erhoben sich die verwitterten Sitzränge des Colosseums.
Kameras schwenkten ein, bedient von Männern mit Baseball-Mützen. Mikrofone hingen über Marcellos Kopf wie eine surrealistische Bananenstaude. Die Roy Bell Dancers erhielten das Signal, sich bereitzuhalten. Rotlichter blinzelten wie die Augen böser Zyklopen. Martin bellte in einem so technischen Jargon Befehle, daß nur Chet sie verstehen konnte und sie dann den jeweiligen Adressaten übersetzte.
Poletti beobachtete dieses Spektakel und wußte nicht recht, ob er träumte oder wachte. Er drehte sich zu Caroline um und fragte leichthin: »Soll ich ein paar Worte ins Mikrofon sprechen?«
Carolines Augen waren wie milchiger Obsidian. »Du brachst nur eines zu tun: sterben!« Sie richtete jetzt einen Revolver auf ihn. Es war Polettis eigene Waffe, die sie zuvor aus seiner Jackentasche genommen hatte.
Das Orchester (hierzu waren extra die Zagreber Philharmoniker eingeflogen worden) setzte zu einem schwungvollen, bedrohlich klingenden Paso doble an. Die Roy Bell Dancers hörten auf, über Haarsprays zu diskutieren, und tanzten einen honigsüßen, gefährlichen danse du venire. Die Kameras rollten auf ihren skelettartigen Galgen hin und her wie gigantische, irrsinnige Gottesanbeterinnen.
Weitere Signale wurden gegeben. Von seiner Warteposition unter einem der verfallenen Torbögen setzte sich ein uniformierter Diener mit einem Tablett in Bewegung, auf dem eine Teekanne und eine Teetasse standen. Alles war echt, mit Ausnahme des vorfabrizierten Dampfes, der aus der Tasse aufstieg. Unterwegs stieß der Diener beinahe mit einer schlanken, dunkelhaarigen, eleganten jungen Frau zusammen, die sehr modebewußt, wenn auch ein wenig extravagant gekleidet war. Sie hatte die großen, schwarzen, funkelnden Augen einer hungrigen Wölfin.
»Eine typisch mordlustige, schizophrene Paranoikerin mit katzenhaft verspielten Neigungen«, murmelte der Diener. Er wußte natürlich nicht, daß die Frau Olga war, und daß seine Diagnose mehr Realität als Poesie und mehr Wahrheit als Witz beinhaltete.
»Tee!« bemerkte Poletti, als der Diener ihn erreichte. »Muß ich den trinken?«
»Sie trinkt ihn«, flüsterte der Diener. »Bleiben Sie einfach nur hier stehen, sterben Sie gut und stellen Sie keine dummen Fragen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging; er war ein echter Profi und haßte Leichtfertigkeit.
»Onkel Mings Schrecklicher Tee!« rief ein Ansager aus einem anderen Teil des Colosseums. »Ja, meine Damen und Herren, Onkel Mings Schrecklicher Tee ist der einzige Tee, der Sie nur um Ihrer selbst willen liebt; er würde Sie gerne heiraten und mit Ihnen kleine Teebeutel großziehen, wenn Onkel Ming das nur erlauben würde.«
Poletti lächelte vergnügt. Er kannte diesen Werbespot noch nicht, der im vergangenen Jahr den »Goldorden für guten Geschmack, Humor und Originalität in der Werbung« des Werbefachverbandes erhalten hatte.
»Was ist so komisch?« fragte Caroline, die Worte hervorzischend wie eine tödliche gefleckte Natter aus Zentralborneo.
»Das Ganze ist furchtbar komisch«, sagte Poletti. »Ich versichere dir, daß ich dich liebe und dich heiraten will; und du weist mich ab, indem du mich tötest. Findest du das denn nicht auch irgendwie lachhaft?«
»Nein«, sagte Caroline. »Nicht, wenn du es wirklich ernst meinst.«
»Natürlich meine ich es ernst«, sagte Poletti. »Aber laß dich dadurch nicht aufhalten.«
»… und so ruft Ihnen Onkel Mings Tee in seiner hoffnungslosen Leidenschaft verzweifelt zu: ›Trink mich, lieber Konsument, trink mich, trink mich, trink mich!‹« beendete der Ansager seinen Text. Auf seine Botschaft folgte zunächst zaghafter, dann rauschender Beifall vom Band.
»Noch zwei Handvoll bis Planerfüllung!« rief Martin.
»Noch zehn Sekunden bis zum Schuß«, übersetzte Chet »Neun, acht, sieben…«
Caroline stand reglos wie eine Statue, mit Ausnahme eines leichten Zitterns der angespannten Muskeln ihres rechten Armes, das sich kaum wahrnehmbar auf den Lauf des Revolvers übertrug.
»… sechs, fünf, vier…«
Poletti stand ruhig und gelassen da. Sein Lächeln zeigte an, wie sehr ihn dieses fremdartige und doch durch und durch menschliche Drama amüsierte, in dem er auf unerklärliche Weise zu einem der Hauptakteure geworden war. (Das Lächeln enthüllte außerdem eine uncharakteristische Geduld, eine tief verwurzelte Anständigkeit und eine pathetische Kalbfleischfaser zwischen Polettis drittem und viertem Eckzahn.)
»… drei, zwei, eins, Feuer!«
Carolines ganzes Wesen wurde durch die ungeheure Unwiderruflichkeit dieses Augenblicks bis ins Mark erschüttert. Sie hob den Revolver langsam, zögernd, wie eine Schlafwandlerin, die mitten in einem Alptraum aufwacht. Sie richtete die Pistole auf Polettis Kopf, zielte auf einen Punkt ein Inch über seinen Augenbrauen. Instinktiv nahm sie den Druckpunkt am Abzug.
»Planerfüllung! Planerfüllung!« schrie Martin.
»Feuer! Feuer!« schrie Chet die Übersetzung.
»Exekutiere sofortigstens!« brüllte Martin.
»Schieß doch endlich!« brüllte Chet die Übersetzung.
Aber nichts geschah in diesem mörderischen Augenblick. Die Spannung war beinahe unbeschreiblich. Und tatsächlich fiel der sensible junge Cole vor Aufregung in Ohnmacht; Chet erlitt eine vorübergehende (aber nichtsdestoweniger schmerzhafte) Lähmung seines rechten Bizeps, Trizeps und seitlichen Streckmuskels; und sogar Martin verspürte, obgleich er doch ein hartgesottener Profi war, ein Kratzen tief im Hals, das, wie er sehr wohl wußte, untrügliches Anzeichen eines beginnenden Sodbrennens war.
Aufnahmeleiter und Kameramänner warteten; die Roy Bell Dancers und die Zagreber Philharmoniker warteten; das weltweite Publikum vor den Fernsehschirmen wartete, mit Ausnahme einiger weniger, die gerade in die Küche gegangen waren, um sich ein Bier zu holen. Poletti wartete; und Caroline, von Unentschlossenheit gelähmt, wartete darauf, daß sie selbst etwas tat.
Wie lange dies wohl noch so weitergegangen wäre, ist schwer abzuschätzen; doch plötzlich tauchte ein unwägbarer Faktor in der nicht berechenbaren Gleichung auf. Olga rannte unter einem der Torbögen hervor, stürmte durch die kleine Gruppe von erschreckten Technikern, sprang auf den Boden der Baracke und entriß Caroline den Revolver.
»Aha, Marcello«, sagte Olga. »Erwische ich dich schon wieder mit einer anderen Frau!«
Auf diese wahnwitzige Äußerung, die, wie es bei dem, was Verrückte sagen, häufig der Fall ist, eine geheime Wahrheit in sich barg, ließ sich nichts erwidern.
»Olga!« rief Poletti und hoffte vergeblich, das nicht Erklärbare zu erklären.
»Nachdem ich zwölf Jahre gewartet habe«, rief Olga, »tust du mir das an!« Sie zielte mit dem Revolver auf Polettis Stirn, etwa einen Inch oberhalb seiner Augenbrauen.
»Bitte, Olga, schieß nicht!« flehte Poletti. »Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, wenn du das tust. Wir sollten vernünftig über die ganze Sache reden…«
»Ich hatte heute schon eine vernünftige Unterredung mit Lidia!« verkündete Olga. »Deine Ex-Frau hat zugegeben, daß eure Ehe bereits annulliert worden ist – nicht heute, auch nicht gestern, nein, vor drei Tagen!«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Poletti. »Aber ich kann dir alles erklären…«
»Dann erkläre dies!« kreischte Olga und drückte ab.
Die Waffe bellte mit tödlicher Autorität. Olga stockte vor Erstaunen der Atem; mit zitternder Hand faßte sie sich ans Herz, starrte ungläubig auf das Blut an ihren Fingern und brach zusammen, tot wie ein Pterodactyle in einer Glasvitrine.