Jeder Brief, den Du mir an oben genannte Adresse schickst, wird mich innerhalb eines Tages erreichen, und ich verspreche, dass ich unverzüglich auf jede Deiner Bitten eingehen werde – mit Ausnahme von der naheliegenden, dass ich Dich während der Ferien zu mir nach London hole.
Ah, wie immer ist er mir einen Schritt voraus, dachte Sherlock. Schon immer hatte sein Bruder eine verblüffende Fähigkeit an den Tag gelegt, wenn es darum ging, zu prophezeien, was Sherlock im nächsten Moment sagen wollte. Er las weiter:
Ich habe angeregt, dass Onkel Sherrinford einen Lehrer engagiert, um Deine Studien zu fördern. Ich habe positive Auskünfte über einen Mann namens Amyus Crowe erhalten, und ich habe den Namen gegenüber Sherrinford erwähnt. Ich denke, Du solltest MrCrowe Dein Vertrauen schenken. Wie ich gehört habe, hat er auch eine Tochter. Dadurch hast Du vielleicht die Möglichkeit, in der Gegend gleichaltrige Freunde zu finden.
Da sieht man mal, wie viel du wirklich weißt, dachte Sherlock. Ich habe bereits angefangen, meine eigenen Freunde zu finden.
Abschließend gemahne ich Dich, daran zu denken, dass dies bloß eine vorübergehende Situation ist. Die Dinge werden sich ändern, so wie sie es immer tun. Mache das Beste aus Deiner jetzigen Lage. Wie der persische Dichter Omar Khayyām schrieb: »Hier mit einem Laib Brot unter dem Ast, einem Fläschchen Wein, einem Buch mit Versen – und mit Dir, die Du neben mir singst in der Wildnis – Und die Wildnis wird zum Paradies …«
Sherlock las die Worte und versuchte, hinter ihre Bedeutung zu kommen. Er war flüchtig vertraut mit den Versen von Omar Khayyām, dank eines Gedichtbandes mit dem Titel Rubaiyat Of Omar Khayyām, den dessen englischer Übersetzer Richard Burton der Schulbibliothek gestiftet hatte. Der allgemeine Tenor der diversen Vierzeiler schien zu besagen, dass sich die Räder des Schicksals immer weiter drehten, ohne dass sie sich stoppen ließen, und nur die Mitmenschlichkeit allein konnte auf dem Lebensweg für etwas Freude sorgen.
Der ungewöhnliche Vierzeiler, den Mycroft zitiert hatte, bedeutete, dass Sherlock sozusagen seinen eigenen »Brotlaib« suchen sollte. Etwas Einfaches, das ihm helfen würde, die vor ihm liegenden Tage zu überstehen. Hatte Mycroft irgendetwas Bestimmtes im Kopf gehabt, oder handelte es sich dabei lediglich um einen allgemeinen Ratschlag? Sherlock war versucht, sofort zurückzuschreiben, um seinen Bruder nach weiteren Einzelheiten zu fragen. Aber er kannte Mycroft gut genug, um zu wissen, dass sein Bruder selten tiefer ins Detail ging, wenn er sich zu einer Sache bereits einmal geäußert hatte. Sherlock wandte seine Aufmerksamkeit den letzten Zeilen zu.
Ein letzter Rat noch: Sei vor MrsEglantine auf der Hut! Ungeachtet ihrer Vertrauensstellung ist sie keine Freundin der Holmes-Familie.
Ich weiß, Du wirst diesen Brief nicht unachtsam herumliegen lassen, sondern an einem sicheren Ort verwahren.
Dein Dich liebender Bruder
Mycroft
Sherlock durchfuhr ein Frösteln, als er die letzten Zeilen las. Für Mycroft war es absolut untypisch, eine so offensichtliche Warnung auszusprechen. Woraus sich folgende Frage ergab: Warum hatte er sich so eindeutig geäußert? War es, weil Mycroft wollte, dass Sherlock keinerlei Zweifel bezüglich seiner Meinung über MrsEglantine hegte? Mycrofts letzter Vorschlag – nein, seine letzte Anweisung –, den Brief nicht rumliegen zu lassen, war eine verschlüsselte Botschaft und bedeutete nichts anderes als: Zerstör ihn! Das sah Mycroft schon ähnlicher.
Er schob den Brief wieder zurück in den Umschlag. Aber es steckte noch etwas anderes darin. Ein weiteres Stück Papier. Sherlock zog es heraus und starrte unversehens auf eine postalische Zahlungsanweisung in Höhe von fünf Schillingen. Fünf Schilling! Er hatte Angst davor gehabt, das Thema Taschengeld gegenüber seinem Onkel und seiner Tante anzusprechen. Aber wie es aussah, würde sich Mycroft darum kümmern.
Sherlock stellte fest, dass er von dem Brief hin- und hergerissen war. Auf der einen Seite fühlte er sich aufgemuntert und fröhlicher, nun da Mycroft Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, und er wusste, dass Amyus Crowe die Zustimmung seines Bruders fand. Andererseits jedoch war er jetzt zutiefst besorgt über etwas, das er zuvor lediglich als eine dumpfe Besorgnis wahrgenommen hatte: nämlich MrsEglantine und ihre offensichtliche Abneigung gegen ihn.
»Interessanter Brief?«
Die tiefe Stimme war warm und hatte einen Akzent, den Sherlock nicht einordnen konnte. Er drehte sich um, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.
Der Mann, der unmittelbar draußen vor der offenen Eingangstür stand, war groß und hatte einen mächtigen Brustkorb. Sein zu allen Seiten abstehender widerspenstiger Haarschopf war schlohweiß und seine Haut hing in kleinen Fältchen am Hals herab. Aber die Art, wie er seinen Körper hielt, strafte sein offensichtliches Alter Lügen. Das ledrige, braungebrannte Gesicht ließ darauf schließen, dass er sich lange in der Natur und unter einer heißeren Sonne aufgehalten hatte, als man sie in England gewohnt war. Was seinen beigefarbenen Anzug betraf, so waren Sherlock Schnitt und Material vollkommen unbekannt. In seiner Hand hielt der Fremde einen breitkrempigen Hut.
»Von meinem Bruder Mycroft«, antwortete Sherlock, nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Sollte er nach einem Hausmädchen rufen oder den Mann hineinbitten?
»Ah, Mycroft Holmes«, sagte der Mann, »Wie ich sehe, haben wir beide gemeinsame Bekannte. Und da ich nicht glaube, dass du alt genug bist, um Sherrinford Holmes zu sein, habe ich stattdessen vermutlich den jungen Sherlock Holmes vor mir.«
»Sherlock Scott Holmes, zu Ihren Diensten«, sagte Sherlock und straffte sich. Er sah sich um. »Ähm, würde es Ihnen etwas ausmachen hereinzukommen, Mr …?«
»MrAmyus Crowe«, antwortete der Mann. »Ehemals aus Albuquerque im Staate New Mexico, Teil der Vereinigten Staaten von Amerika. Und du bist sehr freundlich.« Er trat ein. »Aber wahrscheinlich hast du meine Identität bereits erraten. Ich bin hier auf Empfehlung deines Bruders, und er würde dir sicher nicht schreiben, ohne das zu erwähnen, nicht wahr?«
»Ich sollte wohl nach einem Hausmädchen suchen oder …«
Bevor er den Satz beenden konnte, trat MrsEglantine aus dem Schatten unter der großen Haupttreppe hervor. Wie lange hatte sie dort gestanden? Hatte sie Sherlock dabei beobachtet, wie er den Brief gelesen hatte?
»MrCrowe?«, fragte sie. »Der gnädige Herr erwartet Sie. Bitte, folgen Sie mir hier entlang.« Sie deutete in Richtung Bibliothek.
Sherlock war außer sich vor Schreck und zitterte. Sie konnte unmöglich wissen, was in dem Brief stand. Es sei denn, sie hatte ihn über Dampf geöffnet und anschließend wieder versiegelt, und sein Verstand weigerte sich, ihr das zuzutrauen. Aber nichtsdestotrotz kam er sich vor, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden.
Amyus Crowe betrat die Halle und legte seinen Hut und Gehstock an der Garderobe ab. Er ging auf Sherlock zu. »Wir sprechen uns später«, sagte er und legte eine Hand auf Sherlocks Schulter. Obwohl Sherlock groß für sein Alter war, überragte Amyus Crowe ihn dermaßen, dass er sich wie ein zehnjähriger Junge vorkam. »Halte dich hier ein bisschen auf, mein Sohn.« Er blickte sich in der Halle um. »Und versuche herauszufinden, wie viele von diesen Gemälden Fälschungen sind, während du hier wartest.«