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MrsEglantine versteifte sich. »Keines davon ist gefälscht!«, zischte sie. »Der gnädige Herr würde so was niemals zulassen!«

»›Keines davon‹ ist eine akzeptable Antwort«, sagte Crowe augenzwinkernd, als er an Sherlock vorbeiging. Er übergab MrsEglantine eine Karte. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meine Gegenwart ankündigen könnten.«

MrsEglantine führte Amyus Crowe in die Bibliothek. Augenblicke später tauchte sie wieder auf und entfernte sich, ohne Sherlock noch einmal anzusehen. Er sah, wie sie im Schatten an der Treppe verschwand, und fragte sich, ob sie wohl dort stehengeblieben war, um ihn zu beobachten.

Es drangen Stimmen aus der Bibliothek, aber Sherlock konnte keine einzelnen Wörter verstehen. Er schlenderte an der Eichenvertäfelung entlang und nahm nacheinander die spezifischen Einzelheiten jedes einzelnen Gemäldes in sich auf.

Keines der Bilder war beschriftet. Kunsterziehung stand nicht auf dem Lehrplan der Deepdene-Schule, und er stellte fest, dass er nicht viel Interesse für die verschiedenen Landschaften, Meerespanoramen und Jagdszenen aufzubringen vermochte. Mit ihren perfekten Bäumen, der ungestümen See und den auf spindeldürren Beinchen dahingaloppierenden Pferden kamen sie ihm allesamt irgendwie unecht vor.

Albuquerque. Amerika. Das klang so romantisch. Sherlock wusste wenig über dieses Land. Abgesehen von der Tatsache, dass es vor über zweihundert Jahren von England begründet worden war, dass es sich über hundert Jahre später gegen die englische Herrschaft erhoben hatte und dass seine Bewohner ungestüm und unabhängig waren. Oh, und dass es dort vor ein paar Jahren einen Bürgerkrieg gegeben hatte, bei dem es irgendwie um Sklaverei ging. Aber er mochte Amyus Crowe auf Anhieb, und wenn Crowe charakteristisch für seine Landsleute war, wollte Sherlock eines Tages unbedingt nach Amerika reisen.

Es war ungefähr eine halbe Stunde vergangen, als sich die Tür zur Bibliothek öffnete und Amyus Crowe auftauchte. Er lächelte und schüttelte Sherrinford Holmes die Hand. Hinter ihnen verschwammen die dichten Reihen der in grünes Leder gebundenen Bücher ineinander, was aussah, als stünden sie vor einer grünen Landschaft.

»Ah, Sherlock«, sagte Sherrinford. »MrCrowe, erlauben Sie mir, Ihnen meinen Neffen Sherlock vorzustellen.«

»Wir haben uns bereits kennengelernt«, erklärte MrCrowe und nickte Sherlock zu.

»Bestens. Vielen Dank für Ihr Kommen. Ich besorge Ihnen ein Hausmädchen, das Sie hinausgeleitet.«

»Machen Sie sich keine Umstände, MrHolmes. Ich werde mit dem jungen Master Sherlock einen Spaziergang über Ihr Anwesen machen, wenn es recht ist.«

»Natürlich, natürlich.« Sherrinford zog sich in die Bibliothek zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer, und Crowe ging zu Sherlock hinüber.

»Nun, welches ist es?«, fragte er. »Wenn überhaupt eines davon.«

Sherlock musterte die Gemälde. Obwohl er sie genauestens untersucht hatte, war er sich immer noch nicht sicher. Er deutete auf ein teilweise unbeholfen ausgeführtes Bild eines Reiters, der auf einem Pferd saß, dessen Beine so dünn waren, dass sie unter dem Gewicht eigentlich hätten umknicken müssen. »Dieses hier ist nicht besonders gut gemalt«, probierte er sein Glück. »Die Perspektive ist völlig verzerrt und die Anatomie stimmt nicht. Ist das die Fälschung?«

»Die Sache mit Betrügern«, sagte Crowe und begutachtete das Gemälde, »ist die, dass die Ungeschickten von ihnen ziemlich schnell erwischt werden. Aber häufig bringen Betrüger bessere Werke zustande als das Original. »Du hast recht, was die schlechte Ausführung des Gemäldes anbelangt. Aber es ist echt.« Er ging hinüber zu einer dramatischen Küstenszene, in welcher sich die Wellen am Strand brachen, während im Hintergrund ein Schiff in den Wogen schwankte. »Das ist die Fälschung.«

Sherlock starrte auf das Bild. »Woher wissen Sie das?«

»Wie einige andere Gemälde deines Onkels stammt auch dieses von Claude Joseph Vernet. Dein Onkel besitzt außerdem auch ein paar Bilder von Vernets Sohn Horace. Der ältere Vernet war bekannt für seine Küstenlandschaften. Dieses hier ist ein Bild von Dover Harbour. Aber Vernet ist niemals in England gewesen. Die Details sind so realistisch, dass es offensichtlich nach dem Leben gemalt worden ist. Deswegen ist es erklärtermaßen kein Vernet. Es ist eine Fälschung in seinem Stil.«

»Das konnte ich nicht wissen«, protestierte Sherlock. »Ich habe nie was über Vernet gelernt. Und über andere Maler auch nicht.«

»Und was sagt dir das?«, fragte Crowe. Er blickte auf Sherlock hinab. Seine kobaltblauen Augen verschwanden fast hinter seiner faltigen Haut.

Sherlock dachte einen Moment lang nach. »Ich weiß nicht.«

»Dass man zwar alles, was man will, ableiten kann, aber dass es ohne Wissen zwecklos ist. Dein Gehirn ist wie ein Spinnrad, das sich so lange end- und ziellos dreht, bis es mit Fäden gespeist wird und Garn zu produzieren beginnt. Informationen sind die Grundlage allen rationalen Denkens. Finde sie heraus. Sammle sie gewissenhaft. Stopf die Speicherkammern deines Gehirns mit so vielen Fakten wie nur möglich voll. Versuche nicht, zwischen wichtigen und unwichtigen Fakten zu unterscheiden: Potentiell sind alle wichtig.«

Sherlock dachte einen Moment lang nach. Er hatte sich darauf gefasst gemacht, beschämt oder verletzt zu werden. Aber in Crowes Stimme lag keine Spur von Kritik, und er hatte gute Argumente.

»Ich verstehe«, sagte er nickend.

»Das glaube ich dir«, erwiderte Crowe. »Lass uns einen Spaziergang machen und sehen, was wir so finden.«

Crowe nahm seinen Hut und Stock von der Garderobe neben der Tür, und zusammen traten sie in den strahlenden Sommersonnenschein hinaus. Crowe überquerte den Rasen vor dem Haus und steuerte auf die Bäume zu, während er über die verschiedenen Wolkenformen am Himmel redete und wie sie mit der jeweiligen Wetterlage zusammenhingen.

»Hast du dir jemals Gedanken über Füchse oder Hasen gemacht?«, fragte er nach einer Weile.

»Nicht speziell«, antwortete Sherlock, der sich fragte, wohin dieser Themenwechsel wohl führen würde.

»Sagen wir mal, du hättest hundert Füchse und hundert Hasen in einem Wald. Und der Wald ist von einem Zaun umgeben, so dass kein Tier heraus kann. Was würde passieren?«

Sherlock überlegte einen Moment. »Die Hasen würden Junge bekommen, die Füchse würden Junge bekommen und die Füchse würden die Hasen fressen.«

»Alle Hasen?«

»Die meisten. Dann wären die restlichen Hasen schwerer zu finden, und vermutlich würden sie anfangen, sich zu verstecken.«

»Was würde dann passieren?«

Unsicher, wohin das Ganze führen würde, zuckte Sherlock mit den Schultern.

»Ich vermute, infolge des Nahrungsmangels würden die Füchse zu sterben beginnen.«

»Und die Hasen?«

»Die würden weiterhin Gras fressen, sich verstecken und fortpflanzen, so dass sich ihre Zahl wieder erhöhen würde.« Auf einmal verstand Sherlock. Es war, als wäre in seinem Kopf ein Leuchtfeuer explodiert. »Und die Zahl der Füchse würde wieder steigen, da sie mehr Hasen fangen, ordentlich was zu fressen kriegen und sich vermehrt fortpflanzen. Und vielleicht würden sich die Füchse so vermehren, dass sie mehr und mehr Hasen fressen, bis die Hasen erneut weniger werden.«

»Und dieser Prozess würde sich stetig wiederholen. Wie zwei aufeinander folgende ansteigende und abfallende Wellen. Hinter der ganzen Sache steckt ein Zweig der Mathematik namens Differentialrechnung, der du deine Aufmerksamkeit widmen solltest. Sie ist äußerst nützlich. Differentialgleichungen könntest du übrigens auch bei Kriminellen und Polizisten in einer Stadt anwenden, wenn du möchtest.«