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Er lachte unvermittelt auf. »Polizisten fressen in der Regel natürlich keine Kriminellen, aber das Grundprinzip ist das gleiche. Isaac Newton und Gottfried Leibniz haben diese Art der Mathematik unabhängig voneinander entwickelt. Zudem wurde sie unlängst von Augustin Cauchy und Bernhard Riemann erweitert. Riemann ist übrigens vor ein paar Monaten gestorben. Ein großer Verlust für die Welt, denke ich. Auch wenn ich nicht glaube, dass die Welt es bisher überhaupt mitbekommen hat.«

Sherlock bezweifelte insgeheim, dass Mathematik jemals wichtig für ihn werden würde, und ließ das Thema auf sich beruhen. Er war froh, »seine Speicherkammern des Gehirns« mit Sachen zu füllen, die mit Poesie und Musik zu tun hatten. Mit Sachen also, die er interessant fand. Auf mathematische Gleichungen jedoch konnte er gerne verzichten.

Nachdem sie eine Weile durch den Wald gewandert waren und Crowe ihn unablässig auf die unterschiedlichsten Pflanzen aufmerksam gemacht hatte, erreichten sie die Steinmauer, die die Grenze des Holmeschen Grundbesitzes markierte. Crowe zeigte nach rechts. »Du gehst in diese Richtung und ich in die andere. Sammle so viele Pilze, wie du nur tragen kannst. In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier und dann zeige ich dir, wie man giftige von essbaren Pilzen unterscheidet. Hüte dich davor, einen zu probieren, bevor ich dir das gezeigt habe. Das Probieren ist zwar ein zuverlässiges Analyseverfahren, aber es neigt auch dazu, ein tödliches zu sein.«

Crowe ging nach links, bog Büsche und Grasbüschel mit seinem Gehstock zur Seite und musterte den Untergrund. Sherlock marschierte in die entgegengesetzte Richtung und suchte den Boden ab, in der Hoffnung, im dichten Farnkraut fleischig-weiße Pilzköpfe aufleuchten zu sehen.

Innerhalb von Minuten war Amyus Crowe außer Sichtweite. Sherlock suchte beharrlich weiter. Aber abgesehen von einigen braunen, scheibenförmigen Geschwülsten, die seitlich aus einem Baumstamm herauswuchsen und bei denen er nicht sicher war, ob er sie überhaupt einsammeln sollte, war nichts zu entdecken.

Plötzlich erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Zwischen den Bäumen hatte etwas Farbiges aufgeblitzt: Rote Flecken auf weißem Untergrund, wenn er das richtig gesehen hatte. Er ging näher, in der Annahme, dass er eine Gruppe Giftpilze vor sich hatte, die durch den Waldboden gebrochen waren. Aber etwas an der Kontur des Ganzen irritierte ihn. Es sah aus wie …

Als im nächsten Augenblick eine Rauchwolke von dem Gegenstand aufzusteigen begann, wurde Sherlock schlagartig klar, mit was er es zu tun hatte: Vor ihm lag ein verkrümmter Männerkörper. Eine Brise trieb den Rauch davon. Aber Sherlock konnte keine Anzeichen für ein Feuer ausmachen. Einen Moment lang dachte er, der Mann dort vor ihm würde im Liegen Pfeife rauchen und hätte sein Gesicht aus irgendwelchen Gründen mit einem rotgepunkteten Taschentuch bedeckt. Doch als er näherkam, stellte er fest, dass die roten Flecke weder zu irgendwelchen Giftpilzen gehörten noch Punkte auf einem weißen Taschentuch waren.

Es waren blutige Beulen, die das Gesicht einer Leiche überzogen.

4

Amyus Crowe zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und reichte es Sherlock. Aus einer anderen Tasche holte er ein flach gewölbtes mit Leder überzogenes Metallfläschchen hervor. Er schraubte es auf und goss eine braune Flüssigkeit auf das Taschentuch, das Sherlock in der Hand hielt. Von dem getränkten Stoff stieg ein beißender Geruch auf, der einem die Tränen in die Augen trieb und die Nase kribbeln ließ.

»Brandy«, erklärte Crowe auf Sherlocks fragenden Blick hin. »Nur zur Sicherheit und für den Fall, dass dieser Mann an etwas Ansteckendem gestorben ist. Was immer es auch ist. Schließlich wollen wir uns doch nicht das einfangen, was ihn ins Jenseits befördert hat.« Er zog ein weiteres Taschentuch aus einer anderen Tasche hervor und tränkte es ebenfalls mit Brandy.

»Was immer es auch ist?«, fragte Sherlock verwirrt. »Na, bestimmt doch irgendeine Krankheit! Sehen Sie sich nur sein Gesicht an!«

Crowe fixierte Sherlock mit seinen leuchtend blauen Augen. Mit dem Taschentuch in der Hand musterte er seinen Schüler einen Moment lang interessiert. »Glaubst du, dass eine Krankheit etwas ist, das einfach so passiert? Dass Erkrankungen sich ohne Zutun einfach so im Körper entwickeln?«

»Ich habe noch nie richtig darüber nachgedacht«, gab Sherlock zu. »Doch vermutlich schon.«

»Aber du weißt, dass Krankheiten von einer Person zur anderen übertragen werden können. Zum Beispiel wenn sie sich berühren oder sich nahekommen.«

»Ja …«, sagte Sherlock zögernd und fragte sich, wohin das nun wieder führen würde.

»Und macht es dann nicht Sinn, dass irgend etwas von der kranken zur gesunden Person gewandert sein muss und diese dabei krank gemacht hat?«

Sherlock schwieg. Er wusste, dass dies auf eine neue Lektion hinauslaufen würde, egal, was er auch sagte.

»Vor ein paar Jahren war ich in Wien«, fuhr Crowe fort. »Dort habe ich einen Arzt namens Ignaz Semmelweis kennengelernt. Er war Ungar und kümmerte sich um Frauen, die kurz vor der Entbindung standen. Er hatte festgestellt, dass Frauen, die von Ärzten oder Medizinstudenten betreut wurden, größere Chancen hatten, am Kindbettfieber zu sterben, als diejenigen, die sich Hebammen anvertrauten. Intelligenter Mann, dieser Semmelweis. Viele andere Ärzte hätten es dabei belassen. Aber er erkannte, dass diese Ärzte häufig direkt von einer Obduktion zur Entbindung gekommen waren. Er sorgte dafür, dass Ärzte und Medizinstudenten sich die Hände mit Wasser und Chlorkalk wuschen, bevor sie die schwangeren Frauen untersuchten. Dadurch ging die Sterblichkeit durch Kindbettfieber in seinem Krankenhaus stark zurück. Offensichtlich tötete oder zerstörte der Chlorkalk irgendetwas auf den Händen der Ärzte. Etwas, das anderenfalls auf die Körper der Frauen übergegangen wäre.« Er hielt das Taschentuch hoch. »Deshalb der Brandy. Er hat einen ähnlichen Effekt.«

»Worum handelt es sich bei diesem ›Etwas‹?«, fragte Sherlock.

Crowe lächelte. »Der römische Schriftsteller Marcus Terentius Varro schrieb einst: ›… dort brüten winzige Kreaturen, welche man mit bloßem Auge nicht sehen kann, die durch die Luft fliegen und über Mund oder Nase in den Körper eindringen und ernsthafte Erkrankungen hervorrufen.‹ Nicht gerade die Art klassischer Literatur, die du in der Schule lernst, schätze ich. Seit Jahrhunderten diskutieren die Menschen bereits über diese winzigen Kreaturen. Aber die Medizin scheint das einfach nicht ernst zu nehmen.«

»Aber können wir nicht einfach die Leiche hier liegenlassen und den Behörden Bescheid sagen?«, fragte Sherlock unsicher. »Wäre das nicht sicherer … für uns?«

Crowe blickte sich um und musterte nachdenklich die Büsche und Bäume. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fuchs oder ein Dachs kommt und sich über die Leiche hermacht, ist zu hoch. Ich bin diesem Burschen vorher nie begegnet, aber so was würde ich niemandem wünschen, ob nun tot oder lebendig. Nein, irgendwann muss er fürs Begräbnis sowieso aus dem Wald transportiert werden. Das kann also genauso gut auch gleich erledigt werden. Solange wir ihn nicht berühren und diese Gesichtsmasken tragen, kann uns nichts passieren.«

Behutsam band sich Crowe das Taschentuch vor Mund und Nase. Die Brandydünste brachten seine Augen zum Tränen. Crowe lachte, was die tiefen Runzeln um seine Augen aussehen ließ wie zerknitterte Leinenwäsche. »Ich habe nie behauptet, dass es guter Brandy ist«, sagte er. »Pass auf, dass du keine Vorliebe für das Zeug entwickelst. Jetzt lauf. Besorg eine Schubkarre aus dem Garten und bring sie hierher. Los, schnell!«

Während sich Crowe über den toten Körper beugte, steckte Sherlock sein Taschentuch für später wieder in die Tasche und eilte auf der gleichen Route zum Haus zurück, auf der sie gekommen waren. Er orientierte sich an diversen Bäumen, Sträuchern und Pilzen, auf die ihn Amyus Crowe auf dem Weg aufmerksam gemacht hatte. So schnell er konnte, flitzte er durch das Unterholz und spürte, wie das Gras gegen seine Knöchel peitschte.