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Nach ausgiebigem Geschrubbe mit dunkelroter Karbolseife kam Sherlock eine Stunde später mit geröteter und rau gescheuerter Haut wieder aus dem Bad und zog seine Ersatzkleidung an. Beim Hinausgehen konnte er immer noch den teerartigen Geruch wahrnehmen, den die Seife auf seiner Haut hinterlassen hatte und der ihm beharrlich das Wasser in die Augen trieb. Als er um die Hausecke kam und sich die hartnäckigen Tränen aus den Augen wischte, sah er Amyus Crowe zusammen mit einem korpulenten Mann im schwarzen Gehrock vor dem baufälligen Schuppen stehen. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft.

Das musste der Arzt sein. Beim Näherkommen konnte er die schrille, arrogante Stimme des Doktors hören: »Wir müssen die Behörden informieren. Das ist schon die zweite Leiche, die wir mit ähnlichen Symptomen aufgefunden haben. Wenn das wirklich die Pest ist, sind sofortige Vorkehrungen zu treffen. Der Markt morgen wird abgesagt und sämtliche öffentlichen Gebäude müssen geschlossen werden, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern.

Ach, du lieber Himmel … vielleicht müssen wir sogar sämtliche Straßen in die Stadt sperren!«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Amyus Crowe in seiner langsamen, tiefen Stimme. »Bisher haben wir nur zwei Leichen. Zwei Regentropfen machen noch keinen Regenguss.«

»Aber wenn Sie erst warten, bis der Regen fällt, ehe Sie den Schirm aufspannen, werden Sie durchnässt sein«, erwiderte der Doktor.

Plötzlich wurde Sherlock klar, dass er mehr als die beiden wusste. Die Leiche, die blutigen Beulen, die Rauchwolke: All das entsprach genau dem, was Matthew Arnatt über den Mann erzählt hatte. Dem Mann, der in der Stadt gestorben war. Was war das für Rauch?

»Lassen Sie uns wenigstens warten, bis ein Experte einen Blick auf die Leiche werfen konnte.«

Der Arzt schüttelte verärgert den Kopf. »Was für ein Experte? Ich bin durchaus in der Lage, eine Obduktion durchzuführen. Aber ein Blick auf diese geschwollenen Pestbeulen genügt mir. Wir müssen davon ausgehen, dass wir es hier mit der Beulenpest zu tun haben, und dementsprechend handeln.«

Crowe hob beschwichtigend eine Hand. »Ich kenne einen Dozenten für Tropenkrankheiten, der in Guildford lebt. Professor Winchcombe. Wir könnten nach ihm schicken lassen. Ich werde einen Brief schreiben.«

»Schreiben Sie, wenn Sie möchten«, erwiderte der Doktor. »Aber während Sie das machen, werde ich mit dem Bürgermeister und dem Stadtrat sprechen. Und ebenfalls mit dem Bischof von Winchester.«

»Was hat der denn mit der Sache zu tun?«, fragte Crowe.

»Farnham Castle ist der offizielle Landsitz Seiner Exzellenz.«

Sherlock kam unauffällig näher, aber Amyus bemerkte ihn und forderte ihn mit einer Geste auf fernzubleiben. Verärgerung flammte in Sherlock auf. Schließlich war er es doch gewesen, der die Leiche gefunden hatte. Aber wie es aussah, wollte Crowe ihn jetzt außen vorlassen. Was erwartete Crowe von ihm? Dass er untätig hier herumstand, bis das Gespräch beendet war, um dann einfach wieder da mit dem Unterricht weiterzumachen, wo er unterbrochen worden war? Er konnte Besseres mit seiner Zeit anfangen. Und wenn Crowe sich darüber beschweren wollte, sollte er doch einen Brief an Mycroft schreiben.

Zutiefst verdrossen wandte Sherlock sich um und marschierte schnurstracks in den Wald zurück. Kaum hatte er die ersten Meter zwischen den Baumstämmen zurückgelegt, war das Haus auch schon aus seinem Blickfeld verschwunden. Der weiche Waldboden federte unter seinen Schritten. Um ihn herum gaben die in der sengenden Nachmittagssonne trocknenden Pflanzen ein leises Knistern von sich, und hin und wieder raschelte es im Unterholz, wenn sich dort ein Vogel oder Fuchs bewegte. Der Geruch von feuchtem Laub stieg vom Boden auf und überdeckte die letzten Reste der penetranten Brandy- und Karboldünste, die er noch in der Nase hatte. Da es keine Pfade und Wege durch das dichte Unterholz gab, sah Sherlock sich unversehens gezwungen, immer wieder vorsichtig über gefallene Baumstämme zu kraxeln oder Weißdornbüsche in großem Bogen zu umkurven, um irgendwie voranzukommen.

Da er den Wald an einer anderen Stelle als zuvor mit Amyus Crowe betreten hatte, war er nicht sicher, wo er sich befand. Das Haus war schon längst seinem Blick entschwunden, und Sherlock wurde plötzlich bewusst, dass er keine Ahnung hatte, in welche Richtung er sich bewegte.

Er konnte sich irgendwo mitten im tiefen Wald befinden, aber ebenso gut auch am Rand, und wenn er nicht aufpasste, lief er vielleicht einfach immer weiter, bis er mitten in der Wildnis landete. Es gab keine Möglichkeit, seinen Standort zu bestimmen. Und obwohl er versuchte, sich die Formen der Bäume einzuprägen, an denen er vorbeikam, musste er schließlich feststellen, dass sie am Ende irgendwie alle gleich aussahen.

Irgendetwas zog ihn tiefer in den Wald hinein. Irgendeine Art von Urinstinkt, den er nicht verstand. Manche Leute sprachen über Städte, als hätten diese eine eigene Persönlichkeit. Sherlock hatte so etwas Ähnliches in London empfunden, als er einmal gemeinsam mit seinem Vater die Stadt besucht hatte, und in geringerem Maße auch bei den Streifzügen durch Farnham, die er mit Matthew Arnatt unternommen hatte. Aber hier im Wald spürte er die Anwesenheit einer anders gearteten Persönlichkeit. Etwas, das zeitlos und dunkel war. Aber was immer es auch sein mochte: Es hatte gesehen, wie der Farmarbeiter gestorben war, und sein Tod hatte es gleichgültig gelassen. Ebenso gleichgültig wie die Hunderte, Tausende, Millionen von tierischen und menschlichen Todesfällen, deren Zeuge es über die Jahrtausende geworden war.

Kaum hatte er diese Gedanken verscheucht, stieß er unversehens auf die Spuren, die der Schubkarren auf dem Waldboden hinterlassen hatte. Er folgte ihnen bis zu der Stelle, wo er die Leiche gefunden hatte. Die Moose und Gräser, die von dem toten Körper niedergedrückt worden waren, hatten sich wieder aufgerichtet. Somit war keine Spur mehr von dem Opfer auf dem Boden zu erkennen. Die genaue Position des Toten konnte Sherlock nur noch mittels der Stelle rekonstruieren, an der die Schubkarrenspuren endeten.

Er starrte auf den Boden, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich Ausschau hielt. Er versuchte sich vorzustellen, wie wohl die letzten Momente für den Mann gewesen waren. War er bereits im Fieberwahn auf die Lichtung gestolpert und in die Knie gegangen, ehe er der Länge nach zusammengebrochen war? Oder hatte er – ohne zu ahnen, dass er krank war – einen Spaziergang unternommen, bevor er plötzlich ohnmächtig wurde und sich dann auf Gesicht und Händen Beulen bildeten, während er bewusstlos am Boden lag? Das musste sich doch irgendwie anhand seiner Fußspuren herausfinden lassen. Wenn er schon halb bewusstlos herumgestolpert wäre, müssten die Spuren ziellos umherführen. Wäre er allerdings normal vor sich hingegangen, müssten sie in einer geraden Linie verlaufen. Möglicherweise war es für den Doktor hilfreich zu wissen, wie schnell die Erkrankung ausgebrochen war. Und wenn nicht, könnte Sherlock vielleicht zumindest Amyus Crowe mit seiner Kombinationsgabe beeindrucken.

Sherlock hockte sich hin und untersuchte den Boden genau. Die Stiefel des Mannes hatten deutliche und unverwechselbare Abdrücke im Boden hinterlassen. Der Absatz des einen Stiefels war stärker abgelaufen als der andere. Sherlock konnte leicht die Abdrücke des Mannes von seinen und denen von Amyus Crowe unterscheiden. Er verfolgte die Stiefelspuren wieder zu den Bäumen zurück. Sherlock stellte fest, dass sie ein ziemlich merkwürdiges Muster aufwiesen: Manchmal zeigten die Abdrücke einen Moment lang in eine Richtung und dann urplötzlich wieder in eine andere, was aussah, als wäre der Mann ständig herumgewirbelt. Hatte er vielleicht getanzt? Nein, das war Blödsinn. War ihm schwindelig geworden? Das war schon wahrscheinlicher. Vielleicht hatte die Krankheit – um welche auch immer es sich handelte – seinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigt.

Sherlock folgte der wie wirres Gekrakel aussehenden Spur von der Lichtung weg bis zu der Stelle, wo sie sich plötzlich entzerrte. Von da an verlief sie in gerader Linie weiter, nur um hin und wieder einen Bogen um einen Baum oder einen umgestürzten Baumstamm zu schlagen. Sherlocks Vermutung nach führte sie von Holmes Manor fort. Es sah aus, als ob das, was immer den Mann auch befallen hatte, ganz plötzlich über ihn gekommen war.