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In der einen Minute war er offensichtlich noch völlig normal durch die Gegend gelaufen, um in der nächsten schon wie ein Betrunkener im Kreis umherzutaumeln und kurz darauf zu stürzen. Und dann zu sterben.

Sherlock blieb an der Stelle stehen, wo sich die Fußabdrücke veränderten. Verwirrt sah er sich um. Irgendetwas unmittelbar vor ihm auf dem Boden störte ihn. Er starrte einen Moment lang auf die Bäume, Büsche und schließlich auf das Gras, um herauszufinden, was ihn so irritierte. Dann erkannte er es. Das Gras vor ihm wies eine leicht andere Farbe auf als sonst im Wald. Es war gelber. Sherlock kniete sich nieder und berührte den Boden. Etwas Farbiges und Staubiges blieb an seinen Fingern haften. Irgendetwas war dort verstreut worden. Etwas, das nicht dorthin gehörte.

Sherlock rieb die Fingerspitzen aneinander. Sie waren schmierig. Worum es sich auch immer bei dem gelben Pulver handelte, es fühlte sich nicht nach etwas an, das er schon einmal gesehen hatte. Einen Moment lang geriet er in Panik. Sein Herz raste bei dem Gedanken, dass vielleicht dieses gelbe Pulver die Krankheit ausgelöst haben könnte. Aber nach kurzem Nachdenken kam er zu der Überzeugung, dass Krankheiten wahrscheinlich nicht von ein paar Pulverflecken hervorgerufen wurden. Sie wurden übertragen. Und zwar von Mensch zu Mensch. Eine andere Möglichkeit war jedoch, dass es sich um Gift handelte. Aber welches Gift würde bei einem Menschen solche Beulen an Gesicht und Händen hervorrufen?

Während er noch fieberhaft darüber nachdachte, zog Sherlock den Brief aus der Tasche, den er an diesem Morgen von Mycroft bekommen hatte. Er nahm den Brief aus dem Umschlag und steckte ihn wieder in die Tasche. Den Umschlag hielt er so an den Ecken, dass er sich wie ein kleiner Mund öffnete, und fuhr damit so über das Gras, dass ein wenig von dem gelben Staub darin hängen blieb.

Er verschloss rasch den Umschlag und verstaute ihn wieder. Er hatte keine Ahnung, ob das Pulver von Bedeutung war. Aber vielleicht würde Amyus Crowe etwas damit anfangen können.

Nachdem er eine Weile weiter durch den Wald gestreift war, stieß er schließlich auf eine Straße. Ob es die war, die ihn zurück nach Holmes Manor führen würde, konnte er nicht sagen. In beide Richtungen führte sie in einer Kurve von ihm fort, wodurch sich unmöglich sagen ließ, wo er sich befand. Er setzte sich an den Straßenrand und wartete. Irgendwann, so seine Überlegung, würde schon ein Karren oder eine Kutsche vorbeikommen, und dann könnte er nach einer Mitfahrgelegenheit fragen.

Es war später Nachmittag. Sherlock überlegte, wo er jetzt hingehen sollte. Zurück nach Holmes Manor oder lieber in die Stadt? Nach ein paar Sekunden kam er zu dem Schluss, dass eine Rückkehr nach Holmes Manor einen Nachmittag in schrecklicher Langeweile bedeuten würde. Die Stadt klang da schon sehr viel interessanter.

Die ersten zehn oder zwölf Kutschen, die vorbeikamen, fuhren alle in dieselbe Richtung und waren samt und sonders mit Schachteln, Kisten und Leinensäcken vollgestapelt. Die Gesichter der Kutscher und Passagiere wirkten ängstlich. Sherlock war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, dass sie von den beiden Todesfällen gehört hatten und nun Farnham verließen, um von der vermeintlichen Pest so weit wegzukommen wie nur irgend möglich. Er fragte sie auch gar nicht erst nach einer Mitfahrgelegenheit. Denn der Ausdruck auf ihren Gesichtern ließ vermuten, dass sie ihm nicht gerade wohlgesonnen sein würden. Es war schon eine halbe Stunde vergangen, als auf der harten staubigen Straße endlich das Rumpeln von Wagenrädern zu hören war, die sich aus der entgegengesetzten Richtung zu nähern schienen. Er stand auf und wartete, bis das Gefährt um die Kurve kam.

»Entschuldigen Sie bitte«, rief er dem grauhaarigen Kutscher zu. »In welche Richtung fahren Sie?«

Mit einem leichten Nicken wies der dünngesichtige Kutscher nach vorne auf die Straße, ohne sich die Mühe zu machen, Sherlock anzublicken. Aber wenigstens zog er an den Zügeln, damit die Pferde langsamer wurden.

»In welcher Richtung geht es nach Holmes Manor?«, rief Sherlock zum Kutschbock hoch.

Der Mann neigte seinen Kopf und wies mit einem leichten Nicken auf die hinter ihm liegende Straße.

»Können Sie mich in die Stadt mitnehmen?«, fragte Sherlock.

Der Mann überlegte einen Moment und nickte dann in Richtung der Ladefläche. Sherlock wertete das als ein »Ja« und kletterte hinauf. In diesem Moment fuhr die Kutsche auch schon an, was dazu führte, dass er fast wieder heruntergefallen wäre. Doch zum Glück purzelte er nach vorne in einen Strohhaufen.

Der Fahrer gab während der gesamten Fahrt keine Silbe von sich, und auch Sherlock hatte nichts zu sagen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit damit, abwechselnd über den toten Mann, den mysteriösen Reiter und den sonderbaren, jedoch auch faszinierenden Amyus Crowe nachzudenken. Nachdem ihm Holmes Manor und die Umgebung zunächst als Inkarnation tödlicher Langeweile vorgekommen waren, hatten sich diese Orte nun so ziemlich als das Gegenteil erwiesen.

Seine Gedanken wanderten zu der Geschichte, die Matty erzählt hatte. Zu der Leiche, die aus dem Haus in Farnham getragen worden war, und der merkwürdigen Wolke, die er durch das Fenster hatte schweben sehen.

Sherlock hatte die Geschichte seinerzeit einfach abgetan – zumindest den Teil mit der Wolke. Aber jetzt dachte er anders darüber. Was war, wenn Amyus Crowe mit diesen Krankheiten, die durch winzige Lebewesen verursacht und von Mensch zu Mensch übertragen wurden, nun recht hatte? War dann diese Wolke, die er und Matty gesehen hatten, nichts anderes als eine riesige Ansammlung dieser winzigen Krankheitserreger?

Das machte keinen Sinn. Noch nie hatte Sherlock etwas von einer Wolke gehört oder gelesen, die aus derart winzigen Lebewesen bestand. Und bestimmt waren Sherlock und Matty nicht die Einzigen, die ihr zufällig begegnet waren. Es musste noch etwas anderes im Gange sein.

Sherlock merkte erst, dass sie in Farnham angekommen waren, als die Kutsche rumpelnd zum Halten kam. Starr wie eine Statue saß der Kutscher auf dem Kutschbock und wartete, bis Sherlock herunterkletterte. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, setzte er dann gleich wieder die Kutsche in Bewegung, während Sherlock noch seine Taschen nach Kleingeld durchwühlte, da er davon ausgegangen war, den Mann für seine Umstände bezahlen zu müssen.

Sherlock blickte sich um. Er wusste, wo er sich befand: Er stand auf der Hauptstraße, die durch das Stadtzentrum von Farnham führte. Weiter vor ihm erhob sich ein rotes, mit steinernen Zierbögen versehenes Backsteingebäude, das laut Matty als Getreidespeicher diente. Er blickte sich um. Die Marktstadt ging ihrem üblichen emsigen Treiben nach. Menschen überquerten eilig die Straße und bewegten sich zielstrebig auf den Gehwegen fort, während andere vor Schaufenstern oder einer Backstube stehengeblieben waren. Manche hielten ein kleines Schwätzchen miteinander, andere hingegen gingen einfach ihrer Arbeit nach. Einen stärkeren Gegensatz zur dunklen Einsamkeit des Waldes konnte man sich kaum vorstellen.

Er mochte es sich nur einbilden, aber ihm fiel auf, dass sich ungewöhnlich viele kleine Gruppen an Straßenecken und vor den Läden gebildet hatten. Die Leute schienen die Köpfe zusammenzustecken, als würden sie leise miteinander reden, und jeder, der vorbeiging, wurde misstrauisch beäugt. Sprachen sie darüber, dass möglicherweise die Pest in der Stadt ausgebrochen war? Suchten sie in jedem Gesicht, das ihnen begegnete, nach ersten Anzeichen von Beulen oder Fieberrötungen?

Sherlock ging im Kopf schnell die Liste jener Orte durch, an denen Matty eventuell zu finden sein würde. Zu dieser Tageszeit hatten die Marktstände noch eine oder zwei Stunden geöffnet. Von daher war die Chance gering, dass Matty hier herumstrich und darauf spekulierte, weggeworfenes Obst oder Gemüse zu ergattern. Außerdem wusste Sherlock definitiv, dass vor heute Abend auch keine weiteren Züge mehr zu erwarten waren. Er hatte nämlich den Zugfahrplan für den Fall auswendig gelernt, dass er es auf Holmes Manor nicht mehr aushalten würde. Aber vielleicht, so Sherlocks Vermutung, trieb sich Matty vor einer der zahlreichen Kneipen herum, in der Hoffnung, dass einer der betrunkenen Gäste zufällig mal den einen oder anderen Penny fallen ließ.