Am Ende jedoch wurde Sherlock klar, dass er nicht genug Anhaltspunkte besaß, um herauszufinden, wo Matty stecken könnte. Es war ganz so, wie Mycroft manchmal sagte: »Theoretisieren ohne Anhaltspunkte ist ein verhängnisvoller Fehler, Sherlock.« Also streifte er einfach in den Straßen umher, bis er schließlich an die Stelle kam, die Matty ihm gezeigt hatte. Er stand vor dem Haus, in dem der Mann gestorben war. Aus dessen Fenster die Wolke des Todes gekrochen war, um gleich darauf, über Mauer und Dach emporgleitend, wieder zu verschwinden.
Das Gebäude schien verlassen zu sein. Fenster und Türen waren verschlossen und an die Eingangstür hatte jemand ein Schild genagelt. Sherlocks Vermutung nach handelte es sich um eine Warnung, dass dort drinnen jemand an einem unbekannten Fieber gestorben war. Er spürte widerstreitende Gefühle in sich aufsteigen. Ein Teil von ihm wollte hineingehen und sich dort umsehen. Aber ein anderer, ein von primitiven Urinstinkten geprägter Teil, empfand nackte Angst und trotz des brandygetränkten Taschentuchs, das immer noch zusammengeknüllt in seiner Tasche steckte, wollte er sich nicht der Gefahr einer Infektion aussetzen.
Plötzlich öffnete sich die Haustür einen Spalt weit, und Sherlock zog sich in den Schatten eines gegenüberliegenden Hauseingangs zurück. Wer mochte sich da drinnen wohl herumtreiben? Nahm jemand das Risiko auf sich, dort sauberzumachen? Oder war dort jemand – ungeachtet der Gefahr – eingezogen beziehungsweise wieder zurückgekehrt? Einen Augenblick lang ging die Tür nicht weiter auf, und Sherlock ahnte mehr, als er es wirklich sah, dass jemand in der Dunkelheit dahinter stand und die Straße beobachtete. Ohne zu wissen, warum er das eigentlich tat, drückte sich Sherlock mit klopfendem Herzen noch tiefer in den Schatten.
Schließlich öffnete sich die Tür gerade so weit, dass ein Mann durch die Lücke hindurchschlüpfen konnte. Er war in verschiedene Grautöne gekleidet und blickte die Straße rauf und runter, bevor er aus dem Hauseingang glitt. In der einen Hand hielt er einen Sack gepackt. Und diese Hand war mit feinem gelbem Puder überzogen.
Das Pulver und das Verhalten des Unbekannten, der offenbar nicht beim Verlassen des Hauses gesehen werden wollte, hatten Sherlocks Neugier geweckt.
Sherlock beobachtete, wie der Mann dem Weg bis zu einer Stelle folgte, wo dieser auf eine größere Straße stieß. Dort bog er nach links ab. Sherlock wartete einige Augenblicke, ehe er ihm folgte. Er hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, aber er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Etwas an dem Mann kam ihm merkwürdig bekannt vor. Irgendwo hatte Sherlock ihn schon einmal gesehen. Er hatte ein schmales, wieselartiges Gesicht und auffällige Zähne, die sich vom vielen Tabak gelb verfärbt hatten. Und dann fiel es Sherlock wieder ein: Er hatte das Wieselgesicht am Bahnhof gesehen, als er zusammen mit Matty dort gewesen war. Der Mann hatte Eiskisten auf einen Karren geladen.
Sherlock folgte dem Mann quer durch die Stadt von einem Ende Farnhams zum anderen. Sherlock hielt sich den ganzen Weg über hinter ihm. Er duckte sich in Hauseingänge oder verbarg sich hinter anderen Passanten, wenn er das Gefühl hatte, dass sich der Mann gleich umdrehen würde. Schließlich bog er in eine Seitenstraße ein, die Sherlock wiedererkannte. Es war diejenige, in der er bereits früher am Tag mit Matty gewesen war. Dort, wo sie fast die Kutsche überfahren hätte, in der der seltsame Mann mit den rosafarbenen Augen gesessen hatte.
Der Mann schlich an einer hohen Backsteinmauer entlang, bis er das hölzerne Tor erreichte, aus der die Kutsche gekommen war. Er klopfte an das Tor und benutzte dabei einen ganz bestimmten, aber komplizierten Rhythmus, den Sherlock sich trotz aller Mühe nicht merken konnte. Die Torflügel öffneten sich mit lautem Knarren und der Mann schlüpfte hinein. Ehe Sherlock eine Chance hatte, einen Blick hineinzuwerfen, schloss sich das Tor auch schon wieder.
Frustriert blickte er sich um.
Zu gerne hätte er einen Blick über die Mauer geworfen, um zu sehen, was sich dort drinnen befand. Aber wie es aussah, gab es dazu keine Möglichkeit. Irgendwie hatte alles miteinander zu tun: die beiden Todesfälle, die sich bewegenden, geheimnisvollen Wolken, das gelbe Puder … Aber er konnte nicht erkennen, wie die einzelnen Glieder der Kette zusammenhingen. Die Antworten darauf lagen vielleicht nur ein paar Meter entfernt hinter dieser Mauer, aber wie die Dinge im Moment lagen, hätten sie auch genauso gut in China auf ihn warten können.
Die Sonne stand tief und rot am Himmel. Nicht mehr lange, dann müsste Sherlock wieder zurück in Holmes Manor sein, um sich rechtzeitig für das Abendessen fertig zu machen. Er hatte nicht viel Zeit. Verzweifelt blickte er sich um. Hinter ihm, dort, wo die Mauer einen Knick um die Ecke machte, hatten sich große Teile des Putzes gelöst. Wahrscheinlich waren dort im Laufe der Jahre immer wieder Kutschen und Karren im Vorbeifahren gegen die Mauer gestoßen und Wind und Wetter hatten dann ihr Übriges getan. Die Rillen zwischen den groben Ziegelsteinen, die der abgeplatzte Putz entblößt hatte, könnten seinem Fuß genug Halt bieten, um sich auf die Mauerkrone hinaufzuschwingen.
Einen Versuch war es zumindest wert.
Sherlock beschloss, nicht weiter nachzudenken und die Sache in Angriff zu nehmen. Er pirschte sich zur Mauerecke und blickte sich um. Niemand beobachtete ihn. Er langte so weit nach oben, wie er konnte, und krallte seine Finger in einen Spalt zwischen zwei Ziegelsteinen. Dann tastete er mit seinem rechten Fuß über die Mauer, bis auch dieser Halt fand. Sherlock war nun bereit und zog sich nach oben. Vor plötzlicher Anspannung fingen seine Beinmuskeln heftig an zu brennen, aber er würde jetzt nicht aufgeben. Er schwang seine linke Hand, so weit er konnte, nach oben und spürte, wie sich seine Finger um den Rand der Mauerkrone krallten. Während er sich so fest wie möglich ans Mauerwerk klammerte, zog er zunächst den linken Fuß hoch, um dann die Fußspitze langsam wieder die Mauer hinabgleiten zu lassen, bis sie irgendwo Halt fand. Er verlagerte sein Gewicht von dem rechten auf den linken Fuß und betete, dass das Mauerwerk nicht wegbröckelte.
Aber es hielt. Er stemmte sich mit dem linken Fuß in die Höhe und hievte sich gleichzeitig mit der linken Hand nach oben. Sein Körper schrammte an der Mauer empor, und ehe er wusste, wie ihm geschah, fand er sich lang ausgestreckt auf der Mauerkrone wieder. Noch taumelnd vom Schwung und kurz davor, gleich wieder über die Kante in den Innenhof zu stürzen, der sich unter ihm erstreckte.
5
Im Liegen konnte Sherlock von der Mauerkrone aus den gesamten Innenhof überblicken. Es war niemand zu sehen. Ein fensterloses Gebäude – eigentlich eher als Scheune oder Schuppen zu bezeichnen – nahm einen Großteil des Hofes ein, während die freie Fläche drum herum Dreck und Unkraut überlassen worden war. Diverse Wagenspuren führten vom riesigen Holztor an der Gebäudevorderseite zu dem Tor in der Mauer. Bei einigen handelte es sich um kaum mehr als Kratzspuren, während andere sich tief in den Untergrund gedrückt hatten und immer noch mit Wasser vom jüngsten Regen gefüllt waren. Sherlock kam zu dem Schluss, dass die dezenten Wagenspuren von leicht beladenen Kutschen oder Karren stammten, die auf dem Weg zur Scheune gewesen waren. Auf dem Rückweg jedoch waren sie schwer beladen gewesen, so dass sie tiefer in den weichen Boden eingesunken waren. Aber was wurde dort drinnen im Schuppen gelagert oder hergestellt? Und hatte es irgendetwas mit dem gelben Pulver und dem Todesfall zu tun, den Matty mitbekommen hatte?