Sherlock schwang ein Bein über die Mauer und wollte sich auf den Boden hinabgleiten lassen. Aber ein plötzlich einsetzendes Pfotengetrappel ließ ihn zurückzucken. Etwas Dunkles und Schnelles hatte sich aus dem Schatten neben der Scheune gelöst und kam nun auf wirbelnden kurzen Beinen auf ihn zugeschossen. Sherlock konnte einen großen muskulösen Kopf mit kleinen Ohren erkennen, die das Tier eng an den Schädel gelegt hatte, und einen kleinen, mit borstigem Fell bedeckten Körper. Der Hund bellte ihn nicht an, sondern knurrte stattdessen: ein tiefer Kratzton, ähnlich einer Säge, die sich durch hartes Holz fraß.
Speichel tropfte von seinen entblößten Zähnen. Der Hund kam schlitternd zum Stehen – genau unterhalb der Stelle, wo Sherlock auf der Mauer lag. Unverwandt starrte er Sherlock an. Den Schwanz senkrecht in die Höhe gestreckt und unruhig auf den kleinen stämmigen Beinchen tänzelnd.
Sherlock musste unbedingt in diese Scheune kommen. Er hatte es hier mit einem ungelösten Puzzle zu tun und nichts hasste er so sehr wie ungelöste Puzzles. Aber der Hund sah ziemlich hungrig aus und schien auf Angriff abgerichtet zu sein.
Er blickte zurück auf die Mauerseite, an der er hochgeklettert war. Gab es einen anderen Weg hinein? Unwahrscheinlich. Und außerdem würde ihm der Hund jetzt, da er seine Witterung aufgenommen hatte, einfach überall hin folgen. Ob er sich vielleicht mit ihm anfreunden konnte? Nicht sehr wahrscheinlich. Jedenfalls nicht, ohne von der Mauer herunterzukommen, und die Folgen eines Scheiterns waren zu schrecklich, um sie sich auszumalen. Er könnte sich nach einem losen Ziegel oder einem großen Stein umschauen und ihn auf das Tier hinabfallen lassen. Aber das kam ihm unangemessen brutal vor. Ob er ihn vielleicht irgendwie betäuben konnte? Vermutlich könnte er zurück auf den Markt laufen und von dem wenigen Geld, das er hatte, ein Stück Fleisch kaufen. Aber was dann?
In der Hoffnung, etwas zu finden, das ihm eventuell weiterhelfen könnte, suchte er den Boden auf beiden Seiten der Mauer ab. In der Nähe des Tores sah er etwas am Fuß der Mauer liegen. Etwas, das aussah wie eine liegengelassene alte Pelzmütze. Es war der tote Dachs, den er bereits am Tag zuvor gesehen hatte. Schnell ließ er sich von der Mauer fallen und rannte ein paar Schritte bis zu der Stelle, an der der zusammengekrümmte Körper des Dachses lag. Er hob ihn auf. Das Fell war trocken und staubig, und der Körper so leicht, als hätten die Lebensgeister, die ihn bei seinem Tod verlassen hatten, tatsächlich etwas gewogen.
Ein ekelhafter, ranziger Geruch drang ihm in die Nase. Eine Entschuldigung murmelnd, beugte er sich leicht nach hinten, streckte seinen Arm aus und schleuderte den Dachs über die Mauer hinüber. Mit abgespreizten Gliedern segelte der um die eigene Achse rotierende Körper durch die Luft und verschwand dann auf der anderen Seite. Sherlock hörte einen dumpfen Aufprall, als er auf dem Boden aufschlug. Sekunden später vernahm er das Geräusch, auf das er gehofft hatte: rasch über die trockene Erde trippelnde Pfoten, gefolgt von wütendem Geknurre, als der Hund seine Zähne in den toten Körper schlug.
Sherlock kletterte rasch wieder auf die Mauer hinauf und blickte in den Innenhof hinab. Der Hund presste den Dachs mit den Vorderpfoten auf den Boden, schüttelte den leblosen Körper mit seinen starken Kiefern hin und her und riss dabei ganze Stücke aus dem Kadaver heraus. Als Sherlock sich auf den Boden hinabfallen ließ, brach der Hund abrupt ab. Argwöhnisch äugte er zu Sherlock hinüber, doch dann zerrte er weiter an der toten Kreatur herum. Entweder war er zum Schluss gekommen, dass Sherlock sein Freund war, weil er ihm so ein tolles Spielzeug geschenkt hatte, oder er hob ihn sich einfach für später auf. Sherlock hoffte inbrünstig, dass Ersteres zutraf.
Bevor der Hund den Dachs in so kleine Teilchen zerfetzt hatte, dass sie für ihn nicht mehr von Interesse waren, sprintete Sherlock rasch über den Hof zur Scheune. In eine der Seitenwände war eine Tür eingelassen. Er öffnete sie einen Spalt weit und lugte vorsichtig hinein. Nichts außer Dunkelheit und Stille. Er drückte die Tür weiter auf, schlüpfte hinein und schloss die Tür wieder hinter sich.
Er brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Aber dann merkte er, dass die Scheune von Oberlichtern erhellt wurde. Das Sonnenlicht, das durch die schmutzigen Glasfenster drang, erzeugte in der staubigen Luft diagonale Lichtsäulen, was wie ein imaginäres Stützgerüst für das Dach aussah.
Es roch nach alter trockener Erde und Schweiß. Eine Geruchsmischung, die jedoch etwas anderes überdeckte. Etwas, das irgendwie schwer und süßlich roch. An verschiedenen Stellen standen aufeinander gestapelte Boxen und Kisten herum, und weiter hinten auf der anderen Seite der Scheune luden gerade mehrere Männer ein paar Kisten auf einen Wagen. Der Mann, dem Sherlock durch Farnham bis hierher gefolgt war, befand sich auch darunter. Der Leinensack, den er getragen hatte, war einfach achtlos auf den Boden geworfen worden. An die Deichsel des Wagens hatte man bereits ein Pferd gespannt. Ruhig und geduldig fraß es Heu aus einem Nasensack, den man ihm um den Kopf gebunden hatte. Ein zweiter Wagen stand unbenutzt an einer der Seitenwände herum. Seine beiden leeren Deichseln ruhten auf dem Boden.
In der Nähe lagen etliche leere Holzkisten in einem wirren Haufen übereinander, und Sherlock schlich sich leise hinüber, um sich dahinter zu verstecken. Aufmerksam beobachtete er, wie die Männer die – wie es aussah – letzte Fuhre beluden. Sie fluchten und stießen gegeneinander, als sie die Kisten aufnahmen und sie eine nach der anderen auf den Wagen hievten. Dem Dreck auf ihrer Kleidung und ihren verschwitzten Gesichtern nach zu urteilen, waren sie schon eine ganze Weile so beschäftigt.
Der Mann, den Sherlock verfolgt hatte, half die letzte Kiste auf den Wagen zu heben. Dann rieb er sich die Hände einander und wischte sie anschließend theatralisch an seiner Weste ab, so als hätte er den ganzen Tag über im Schuppen mitgeschuftet. Das geheimnisvolle Puder, das er an den Händen gehabt hatte, hinterließ dabei gelbe Flecken auf dem groben Kleidungsstoff.
Einem der anderen Männer – einem riesigen kahlköpfigen Schlägertypen – schien das Getue auf die Nerven zu gehen. An einem Riemen hing von seinem Gürtel eine brennende Öllaterne herab. Ihr Licht ließ auf seinen Armen eindrucksvolle Tattoos aufleuchten, die sich wie zwei Ärmel bis zu den Handgelenken hinunterzogen. Höhnisch musterte er seinen Kumpan.
»Na, genießte deinen kleinen Ausflug?«
»Hey, ich hab auch was getan«, erwiderte der erste Mann.
»Also, was war nun los in Wints Bude?«
Der Neuankömmling schüttelte den Kopf. »Der Baron hatte recht. Wint hat hier heimlich Zeugs geklemmt und versucht, das zu verscherbeln. Neben dem Bett hab ich einen riesen Haufen Jacken und Hosen gefunden.«
»Hat dich jemand gesehen?«
»Niemand. War unsichtbar wie ein Geist.«
»Haste alles erwischt?«
Der Mann wies nickend auf den Leinensack. »Hab alles zusammengerafft und da reingestopft.«
»In Ordnung. Schmeiß das Zeugs auch noch auf den Wagen.«
Als der Neuankömmling sich in Bewegung setzte, um den Sack aufzuheben, rief ihm sein bulliger Komplize hinterher: »Haste Wints Bude abgefackelt?«
Der Neuankömmling schüttelte den Kopf.
Der bullige Mann zuckte die Achseln. »Das kannst du dann dem Baron selbst erklären, wenn du ihn triffst.«
»Hey, Clem. Die andere Karre da brauchen wir nicht mehr, oder?«, rief plötzlich einer der Männer und wies mit dem Kopf auf den anderen Wagen.
Der Tätowierte wandte sich halb zu den Arbeitern um. »Lass ihn stehn«, sagte er. »Wahrscheinlich brauchen wir den nicht mehr. Aber mit ›Wahrscheinlich‹ hat es der Baron nicht so. Is nämlich ’n vorsichtiger Mann, der Baron.« Er wandte sich wieder dem Neuankömmling zu und zeigte auf die gelben Puderflecken auf dessen Weste.