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Panik drohte Sherlock zu überwältigen. Er wollte wegrennen, aber er wusste nicht wohin, was dazu führte, dass er sich am Ende einfach nur mit zuckenden Gliedern auf der Stelle vor und zurück bewegte. Ein bitterer metallener Geschmack machte sich in seinem Mund breit, und sein Herz hämmerte so heftig, dass er seinen Pulsschlag in den Schläfen und dem Hals spürte. Einen Moment lang war er außerstande, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn einen Fluchtplan zu schmieden. Doch nach und nach gelang es ihm, die Panik zu unterdrücken, indem er sich gebetsmühlenartig vorhielt, dass es einfach irgendeinen Weg hinaus geben musste. Er musste nur herausfinden, welcher das war. Er spürte, wie sich sein Herzschlag allmählich normalisierte und das Zucken in Armen und Beinen nachließ.

Rauch begann sich in der Scheune auszubreiten und erste Flämmchen wanden sich wie neugierige Finger zwischen den Bretterspalten hervor. Denk nach!, ermahnte er sich. Denk schärfer nach als jemals zuvor.

Aufmerksam blickte er sich in der Scheune um. Die meisten Kisten waren von Clem und seinen Männern abtransportiert worden, ohne dass er herausbekommen hatte, was in ihnen war. Die Kisten, hinter denen er sich versteckt hatte, standen immer noch drüben an der verschlossenen Seitentür. Aber so leicht, wie sie sich hatten bewegen lassen, als er gegen sie gekommen war, waren sie vermutlich leer.

Er stürmte auf eine Seitenwand zu und warf sich mit der Schulter gegen die Bretter. Das Holz erzitterte unter dem Aufprall, aber nicht ein Brett zersplitterte oder verbog sich. Er versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Wollte er die Wand einreißen, würde er mit der Schulter nicht weit kommen, sondern eine Axt oder einen Hammer oder so etwas brauchen.

Verzweifelt blickte er sich in der Scheune nach irgendeinem Werkzeug um, mit dem er eventuell die Wand zertrümmern oder die Bretter auseinanderbiegen konnte. Da fiel sein Blick plötzlich auf den unbenutzten Wagen, den man achtlos zurückgelassen hatte. Er sah intakt aus, und der Mann namens Clem hatte zu verstehen gegeben, dass man ihn benutzt hätte, wären noch mehr Kisten zu transportieren gewesen. Konnte er vielleicht mit Hilfe des Wagens irgendwie entkommen? Und würde er sich überhaupt von der Stelle bewegen lassen?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Sherlock flitzte zum Wagen hinüber und packte eine der beiden Deichseln, zwischen denen man sonst das Zugpferd anspannte. Obwohl die Deichselstange einiges wog, konnte Sherlock sie ohne allzu große Mühe anheben.

Versuchsweise zog er daran, doch der Wagen rührte sich nicht. Er zog noch einmal. Diesmal fester. Der Wagen bewegte sich leicht, aber die andere Deichsel lag immer noch auf dem Scheunenboden, und Sherlocks Versuche drückten sie nur noch tiefer in den Dreck, so dass sich der Wagen nicht weiter von der Stelle bewegte.

Logik. Hier war Logik gefragt! Wenn er schon nicht in der Lage war, den Wagen zu ziehen, würde er ihn vielleicht schieben können. Sherlock ließ die Deichsel fallen und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Frontseite, wo normalerweise der Kutscher saß. Er bewegte sich! Der Wagen rollte ein paar Zentimeter nach hinten.

Welche Schutzgöttin auch immer über ihn wachen mochte, Sherlock dankte ihr jedenfalls, dass sie ihm gegen den mysteriösen Baron beiseite stand. Dem Baron, der seine Arbeiter mit seiner Manie, nichts dem Zufall zu überlassen, so beeindruckt hatte, dass sie nicht nur einen Ersatzwagen besorgt, sondern darüber hinaus auch dessen Achsen sorgfältig geschmiert hatten. Sherlock machte ein paar Schritte zurück und stürmte dann wieder auf den Wagen zu. Heftig krachte er mit der Schulter gegen das Gefährt. Es war dieselbe Seite, mit der er sich gegen die Scheunenwand geworfen hatte, und er spürte, wie ihm ein stechender Schmerz in Arm und Nacken schoss. Aber der Wagen rollte ein paar Meter weiter, ehe er wieder stehenblieb.

Rauch wehte ihm ins Gesicht und brachte seine Augen zum Tränen. Er drehte sich um und sah, dass nun schon Flammen am Eingangstor emporzüngelten. Logischerweise würde das Feuer die Widerstandsfähigkeit des Tores schwächen und es somit zur idealen Stelle machen, um dort mit dem Wagen durchzubrechen. Das hieß, wenn er ihn denn weit und schnell genug bewegen konnte. Außerdem müsste er ihn erst wenden, um auf das Tor zuzusteuern, und zu allem Überfluss machten ihm auch die Flammen ziemlich Angst. Seine einzige realistische Chance, schnell rauszukommen ohne gegrillt zu werden, bestand darin, den Wagen durch die hintere Scheunenwand krachen zu lassen.

Den scharfen Schmerz ignorierend, der ihm erneut durch die Schulter fuhr, stemmte sich Sherlock mit beiden Händen gegen den Wagen. Er ging in die Knie und drückte beide Füße fest in den weichen Boden. Sein Körper befand sich nun fast in der Waagerechten, und er quetschte jedes bisschen Energie aus seinem Körper, das er hatte – mehr als er es jemals beim Rugbyspielen auf dem Schulsportplatz oder bei den Boxkämpfen in der Turnhalle getan hatte. Eine Ewigkeit lang schien es so, als würde sein Körper zwischen zwei unbeweglichen Objekten in der Schwebe hängen, aber dann begann sich der Wagen zu bewegen. Eines der Räder stieß gegen einen Gegenstand – vielleicht einen Stein oder einen Dreckhaufen – und der Wagen drohte wieder zum Ausgangspunkt zurückzurollen. Aber Sherlock stemmte seine Beine in den Boden und drückte sich so heftig gegen das Gefährt, dass seine Muskeln kreischten. Das Rad überwand das Hindernis und der Wagen begann, nach hinten zu rollen. Sherlock hob seinen linken Fuß, machte einen großen Schritt nach vorn und ließ dann den rechten Fuß folgen. Der raue, schmutzige Boden gab seinen Füßen Halt und mit aller Kraft bewegte er das Fuhrwerk Zentimeter für Zentimeter voran. Ähnlich wie eine Lokomotive nahm der Wagen allmählich Fahrt auf. Aus einem lahmen Kriechtempo wurde innerhalb weniger Sekunden langsame Schrittgeschwindigkeit, die alsbald in einen zügigen Marsch und schließlich in einen strammen Trab überging. Sherlock spürte, wie es Ping in seiner Schulter machte, als eine Sehne über einen Knochen flutschte, wie eine Violinensaite, an der ein Finger zupfte. Sein Arm drohte einfach kraftlos herunterzugleiten, aber mit einer gewaltigen Willensanstrengung schaffte er es, die Hand oben am Wagen zu behalten, und einen Augenblick später ließ das taube Nadelstichgefühl nach.

Der Wagen rollte weiter. Sherlock wagte es nicht, aufzublicken, um sich zu vergewissern, wie weit die Wand noch entfernt war. Denn er fürchtete, dass sich durch die veränderte Körperhaltung die Antriebskraft auf den Wagen verringern und das Gefährt womöglich an Fahrt verlieren könnte. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war, seine Schritte zu zählen: eins, zwei … vier … sechs … neun – und jeder war schneller als der vorige. Müsste er nicht schon längst an der Wand sein? Er konnte die Wärme des Feuers in seinem Nacken spüren. Offensichtlich brannte das Tor hinter ihm nun lichterloh. Vor sich sah er den rot gerandeten flackernden Schatten seiner eigenen Gestalt auf dem Holz des Karrens tanzen.

Im nächsten Augenblick krachte das Wagenende auch schon gegen die Rückwand. Angetrieben durch die Wucht des eigenen Gewichtes bewegte sich das Gefährt noch ein Stückchen weiter voran. Latten zersplitterten und Nägel wurden mit schrecklichem Quietschen aus dem Holz gerissen. Die frische Luft, die Sherlock entgegenblies, wehte den Rauch davon, schürte aber leider auch das Feuer hinter ihm, das sich nun noch schneller voranfraß. Die Hinterräder hatten sich im Holz verhakt, doch hinter den klotzigen Kanten des Wagenkastens konnte er das Tageslicht schimmern sehen. Er kletterte auf den Kutschbock hinauf, krabbelte weiter über die Ladefläche nach hinten und kam schließlich in der herrlich frischen Luft wieder zum Vorschein.

In seiner Naivität war er irgendwie davon ausgegangen, draußen jede Menge Menschen, darunter mit Handpumpen und Eimern bewaffnete Angehörige der lokalen Feuerbrigade anzutreffen. Aber der Hof lag einsam und verlassen da. Sogar der Hund hatte sich verzogen. Vermutlich war er den Schlägertypen durch das Haupttor nach draußen gefolgt. Auch wenn in der Scheune schon fast ein Inferno getobt hatte, waren die Flammen gegen den klaren blauen Himmel von außen kaum auszumachen. Lediglich ein dünner Rauchfaden stieg in die Höhe. Kaum mehr, als ein Herdfeuer in der Küche verursachen würde.