Irgendwann würde natürlich jemand aufmerksam werden und nachsehen. Aber vorläufig war noch nicht damit zu rechnen.
Das Haupttor war geschlossen, und Sherlock vermutete, dass Clem und seine Kumpane es von außen mit einer Kette versperrt und mit einem Vorhängeschloss gesichert hatten. Denn eine ähnliche Vorsicht hatten sie bei fast allen Aktionen an den Tag gelegt, die sie bisher unternommen hatten. Sherlock verdrängte die Gedanken an die Gangster und suchte die Mauern nach einer geeigneten Stelle zum Hinüberklettern ab. Doch da die Innenseite aus unverputzten rohen Ziegelsteinen bestand, hatte er keine Mühe, die Mauer hochzukommen.
Auf der Mauerkrone hielt er kurz inne und blickte auf die Scheune zurück. Das Feuer hatte sich nun bis zur Dachhöhe vorgearbeitet und bereits die Dachsparren in Brand gesetzt. Er musste von hier fort.
Halb kletternd, halb fallend erreichte er den Boden und humpelte, so schnell er konnte, davon. Er blieb so lange in Bewegung, bis er das Gefühl hatte, dass ihm die Lungen platzten und die schmerzenden Beinmuskeln dringend nach einer Pause verlangten. Völlig erledigt ließ er sich neben eine niedrige Steinmauer fallen. Er saß einfach nur da und gab sich der Erschöpfung und der Panik hin, die er nun schon eine gefühlte Ewigkeit lang unterdrückt hatte. Er sog die Lungen voller Luft und wehrte sich nicht, als sich die angestaute Anspannung als Zittern in Brust, Armen und Beinen entlud. Nach einer Weile fühlte er sich stark genug, um die Hände anzuheben. Die Haut war zerkratzt und blutig, und die Handflächen waren gespickt mit Holzsplittern, die er bis dahin nicht einmal wahrgenommen hatte. Einen nach dem anderen zog er sie heraus, bis seine Hände von lauter blutigen Pünktchen übersät waren.
All die Anstrengungen und all die Gefahren! Und was bitte schön hatte ihm das gebracht? Nun, zumindest die Erkenntnis, dass, falls es sich bei dem Tod des Mannes in Farnham um einen Unfall handelte, eine wie auch immer geartete kriminelle Aktivität dahintersteckte. Der Tote hatte seinen Kumpanen etwas gestohlen und dieses »Etwas« hatte ihn umgebracht. Die Kriminellen hatten den Rest von diesem »Etwas« in Kisten verpackt, diese an einen unbekannten Ort verfrachtet und schließlich die Scheune abgebrannt, um alle Spuren zu beseitigen. Und all dies war auf Anweisung eines mysteriösen »Barons« passiert.
Urplötzlich hatte Sherlock wieder den Moment vor Augen, als er das erste Mal vor dem Tor gestanden hatte und Matty und er fast von einer Kutsche überfahren worden wären. Der Mann in der Kutsche … der Mann mit der weißen Haut und den rosafarbenen Augen … War er der Baron? Und wenn es so war, was genau führte er im Schilde?
Sherlock merkte auf einmal, dass es schon dunkel wurde. Die Sonne war fast untergegangen. Er musste nicht nur zusehen, dass er möglichst rasch wieder nach Holmes Manor zurückkam, sondern sich gleich nach seiner Ankunft irgendwie waschen und die Kleidung wechseln, ohne dass MrsEglantine mitbekam, dass etwas vorgefallen war. Einen Moment lang hatte er sich der Vorstellung hingegeben, seine Probleme hätten sich für heute erst einmal erledigt. Aber niedergeschlagen wurde ihm klar, dass ihm wahrscheinlich noch so einiges bevorstand.
6
Am nächsten Morgen verpasste Sherlock fast das Frühstück. Die Abenteuer des gestrigen Tages hatten ihre Spuren hinterlassen. Er war müde, spürte am ganzen Körper Schmerzen und sein Kopf hämmerte im Gleichtakt mit seinem Herzschlag. Er empfand ein beklemmendes Gefühl in der Brust und wurde darüber hinaus von einem Kratzen im Hals geplagt, das wahrscheinlich vom Rauch kam, den er eingeatmet hatte. Das Abendessen hatte er verpasst. Aber seine Tante hatte dafür gesorgt, dass man ein Tablett mit kaltem Bratenfleisch und Käse für ihn stehen gelassen hatte. Jedenfalls musste es seine Tante gewesen sein. Denn MrsEglantine hätte sich sicherlich einen feuchten Kehricht darum geschert. Die Nacht war in ruhelosem Wechsel zwischen Schlaf und Wachen vergangen, während dem er zwischen Träumen und Erinnerungen hin- und herglitt, bis er nicht mehr sagen konnte, was nun was war. Als er dann endlich doch in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel, ging bereits die Sonne auf. Erst der Gong, mit dem eines der Dienstmädchen zum Frühstück rief, riss ihn aus seinem komatösen Zustand. Damit blieben ihm nicht einmal zehn Minuten Zeit, um sich für den Tag fertig zu machen.
Glücklicherweise hatte eines der Dienstmädchen ihm bereits eine Schüssel mit Wasser aufs Zimmer gebracht, ohne ihn zu wecken. Er spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht, griff nach dem aus Tierknochen gefertigten Zahnbürstenstiel und streute Kalkpuder mit Zimtgeschmack auf die Schweineborsten des Bürstenkopfes. Nach dem Zähneputzen zog er sich rasch an. Er würde sich darum kümmern müssen, dass seine Kleidung bald gewaschen wurde, da er kaum noch etwas Sauberes zum Wechseln hatte.
Als er die Treppe hinunterflitzte, warf er einen Blick auf die Standuhr in der Halle. Sieben Uhr. Gerade noch geschafft!
Er eilte in das Speisezimmer. Den finsteren Blick von MrsEglantine ignorierend, musterte er den mit Speiseplatten und Gerichten bestückten langen Büfettisch, der die eine Seite des Raumes einnahm. Sherlock füllte sich eine Portion Kedgere auf. Ein leckeres Gericht aus Reis, Eiern und geräuchertem Schellfisch, von dem er vor seiner Ankunft in Holmes Manor noch nie gehört hatte, für das er aber allmählich eine Vorliebe entwickelte. Er versuchte nach Kräften, jeden Augenkontakt zu meiden, und schaufelte sich das Essen so schnell in den Mund, dass er kaum etwas schmeckte. Er war völlig ausgehungert. Die Ereignisse des Vortages hatten ihm eine Menge Energie abverlangt und die musste nun ersetzt werden. Onkel Sherrinford las ein religiöses Traktat beim Essen und Tante Anna redete wie immer mit sich selbst. Soweit Sherlock es beurteilen konnte, wurde jeder Gedanke, der ihr gerade in den Kopf kam, auf der Stelle artikuliert, ob er nun wichtig war oder nicht.
»Sherlock«, sagte sein Onkel und blickte von seiner Broschüre auf, die er las. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du gestern in einen unglückseligen Vorfall verwickelt warst.« Porridgereste zierten seinen langen Bart.
Einen Moment lang war Sherlock wie gelähmt. Er fragte sich, wie sein Onkel von dem Lagerschuppen und dem Feuer erfahren haben konnte. Aber dann wurde ihm klar, dass Sherrinford von der Leiche sprach, die Amyus Crowe und er im Wald gefunden hatten. »Ja, Onkel«, erwiderte er.
»Dem Menschen vom Weibe geboren, bleibt nur kurze Zeit«, begann Sherrinford zu intonieren. »Er ist voll des Elends. Wie eine Blume blüht und verwelkt er, vergeht wie ein Schatten, ohne lange an einem Ort zu verweilen.« Sherrinford fixierte ihn mit durchdringendem Blick und fuhr fort. »Obwohl mitten im Leben, sind wir doch stets vom Tod umweht: Wer könnte uns Hilfe bringen, als Du, oh Herr allein, den wir durch unsere Sünden erzürnet haben.«
Unsicher, was er darauf antworten sollte, nickte Sherlock nur, als ob er genau verstand, worüber sich sein Onkel gerade ausließ.
»Du hast ein behütetes Leben bei meinem Bruder und seiner Frau genossen«, sagte Sherrinford. »Alles, was mit Tod und Sterben zu tun hat, mag bisher vielleicht an dir vorbeigegangen sein, aber sie sind natürliche Bestandteile von Gottes Plan. Lass dich dadurch nicht ängstigen. Wenn du mal reden musst, steht die Tür meines Studierzimmers immer für dich offen.«
Sherlock war gerührt, dass Onkel Sherrinford – wenn auch in seiner ganz eigenen Art und Weise – versuchte ihm zu helfen. »Danke«, erwiderte er. »Hat der Mann, den wir gefunden haben, eigentlich hier oder draußen auf dem Anwesen gearbeitet?«
»Ich glaube, er war Gärtner«, sagte Sherrinford. »Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gekannt habe. Aber wir werden ihn und seine Familie in unsere Gebete einschließen. Wir werden seine Angehörigen unterstützen.«