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»Er war noch neu«, fügte Tante Anna hinzu. »Ich glaube, er hatte gerade erst bei uns angefangen. Vorher hat er Bekleidung in einer Textilfabrik in Farnham angefertigt, die einem Earl oder Viscount oder irgendeinem anderen Angehörigen der Aristokratie gehört. Die Referenzen des Mannes waren exzellent …«

»Wie ist er gestorben?«, fragte Sherlock, während seine Tante einfach still weiter vor sich hinplapperte.

»Das ist kein angemessenes Gesprächsthema während des Frühstücks«, ließ sich MrsEglantine von ihrem Standort am Büfettisch aus vernehmen.

Sherlock warf ihr einen raschen Blick zu. Sowohl die dreiste Kühnheit ihrer Worte als auch die Tatsache, dass sein Onkel und seine Tante sie nicht zurechtgewiesen hatten, überraschten ihn. Für eine Bedienstete war sie ziemlich vorlaut. Unwillkürlich musste er an Mycrofts Warnung denken: Sie ist keine Freundin der Holmes-Familie. Und er fragte sich, ob hinter MrsEglantine und ihrer Anwesenheit im Haus mehr steckte, als er es für möglich gehalten hatte.

»Der Junge ist neugierig«, erklärte Sherrinford und musterte Sherlock unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. »Neugierde ist eine fördernswerte Eigenschaft. Neben unseren unsterblichen Seelen ist sie es, die uns von den Tieren unterscheidet.« Er wandte sich wieder Sherlock zu und fuhr fort. »Der Leichnam wurde zum ansässigen Arzt gebracht und der hat dem Gerichtsmediziner von North Hampshire ein Telegramm geschickt. Ihnen obliegt es, die Todesursache offiziell festzustellen. Aber so viel ich gehört habe, wies das Gesicht des Mannes die für Pocken oder Pest so charakteristischen Pusteln und Beulen auf.« Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Das Letzte, was wir hier brauchen, ist der Ausbruch irgendeiner Seuche. Man wird den Doktor heftig bedrängen, die Lage rasch in den Griff zu bekommen, falls noch jemand krank werden sollte. Wie ich gehört habe, packen ein paar von den Markthändlern bereits ihre Stände zusammen und ziehen woanders hin. Panik kann sich schneller ausbreiten als eine Seuche. Ob Schafe, Weizen, Wolle oder sonst etwas: Farnham lebt vom Handel. Wenn der sich in eine andere Stadt verlagert, geht es mit Farnhams Wohlstand langsam aber sicher zu Ende.«

Sherlock sah auf seinen Teller hinab. Er hatte genug Kedgeree gegessen, um für eine Weile durchzuhalten, und er wollte unbedingt wieder zurück nach Farnham, um zu sehen, ob er Matty irgendwo auftreiben konnte.

»Dürfte ich aufstehen, Sir?«, fragte er. Sein Onkel nickte und sagte: »Amyus Crowe bat mich, dir auszurichten, dass er zur Mittagessenszeit wieder da ist, um mit deinen Studien fortzufahren. Sorge also dafür, dass du pünktlich wieder zurück bist.«

Seine Tante mochte ebenfalls so etwas wie eine Antwort in ihren endlosen Monolog mit eingeflochten haben, aber mit Sicherheit war das nicht zu sagen. Also erhob Sherlock sich und steuerte schon auf die Tür zu, als ihn ein plötzlicher Gedanke zurückhielt.

»Tante Anna?«, sagte er. Seine Tante blickte auf. »Hast du eben gemeint, dass der verstorbene Mann vorher für einen Earl oder Viscount gearbeitet hat?«

»Das stimmt, mein lieber Junge«, antwortete sie. »In der Tat, ich glaube mich daran zu erinnern, dass …«

»Könnte es auch ein Baron gewesen sein?«

Sie hielt einen Moment lang inne und dachte nach. »Ich glaube, du hast recht«, sagte sie. »Es war ein Baron. Ich hab den Brief noch irgendwo. Er war …«

»Erinnerst du dich an seinen Namen?«

»Maupertuis«, erwiderte Tante Anna. »Sein Name war Baron Maupertuis. Was für ein komischer Name, dachte ich noch. Ein französischer, ganz offensichtlich. Oder vielleicht auch ein belgischer. Er hat die Referenz natürlich nicht selbst geschrieben. Ausgestellt hat sie …«

»Danke, Tante Anna«, sagte Sherlock und verließ das Zimmer, während sie immer noch vor sich hinredete.

Ein Schauder durchfuhr ihn, als er in die Halle ging. Das alles konnte doch unmöglich Zufall sein. Zwei Männer tot, beide offensichtlich auf die gleiche Weise umgekommen, einer von ihnen Mitglied einer Schlägerbande, die in einem Lagerschuppen in Farnham zu tun hatte, der einem mysteriösen »Baron« gehörte. Und der andere hatte erst kürzlich die Stelle bei einem »Baron Maupertuis« verlassen.

Es konnten doch nicht zwei Barone in die ganze Sache verwickelt sein, oder? Der Besitzer des Lagerschuppens, der merkwürdige Mann, den Matty und er in der Kutsche hatten wegfahren sehen … Das musste Baron Maupertuis gewesen sein. Und wenn der Mann, dessen Leichnam Sherlock und Amyus Crowe im Wald entdeckt hatten, zuvor für Baron Maupertuis in einer Bekleidungsfabrik gearbeitet hatte, dann befand sich diese Fabrik im besagten Lagerschuppen in Farnham. Und bedeutete das etwa, dass es sich bei den Sachen, die der Tote namens Wint vermutlich aus dem Lagerhaus gestohlen hatte, um Kleidung handelte?

Sherlock hatte das Gefühl, als ob die unzähligen einzelnen Puzzleteilchen, die bis dahin in seinen Gedanken wild herumrotiert waren, sich auf einmal wie von selbst zusammenfügten. Das Bild zeichnete sich noch nicht deutlich ab. Es fehlten immer noch ein paar Teile, aber allmählich ergab das alles auf merkwürdige Art und Weise einen Sinn.

Jetzt, da er von der Fabrik, der Kleidung, dem Baron und den toten Männern wusste, konnte Sherlock auf Basis dieser Informationen einige Schlussfolgerungen ziehen. Er war nicht mehr auf reine Spekulationen angewiesen, sondern konnte nun mit ein paar wahrscheinlicheren Theorien aufwarten. Zum Beispieclass="underline" Zwei Männer, die mit einer Bekleidungsfabrik in Verbindung standen, waren gestorben, offensichtlich an den Pocken oder der Pest. Bedeutete das, dass die Textilien selbst irgendwie verseucht gewesen waren? Nach dem, was er bei der gelegentlichen Lektüre der Zeitungen seines Vaters aufgeschnappt hatte, glaubte Sherlock zu wissen, dass ein Großteil der Kleidung in den Textilstädten Nordenglands, Schottlands und Irlands produziert wurde. Ferner hatte er gehört, dass ein Teil auch aus dem Ausland importiert wurde. Aus China, wenn es sich um Seide handelte, und vielleicht auch Indien, wenn es um Baumwolle oder Musselin ging.

Vielleicht war aus einem dieser fernen Länder eine verseuchte Ladung nach Großbritannien gelangt. Oder womöglich war die Fracht von Insekten befallen gewesen, die diese Krankheit in sich trugen, und die Arbeiter in den Fabriken hatten sich damit angesteckt. Das war eine mögliche Erklärung, und Sherlock verspürte das dringende Bedürfnis, jemandem davon zu erzählen. Zuerst dachte er dabei an seinen Onkel, doch er verwarf diese Idee gleich wieder. Sherrinford Holmes mochte zwar ein Erwachsener sein, aber er war auch etwas weltfremd und würde Sherlocks Theorie wahrscheinlich rundweg verwerfen. Einen Moment lang verließ ihn der Mut. Wen hatte er noch?

Dann fiel ihm Mycroft ein. Er könnte alles aufschreiben und seinem Bruder einen Brief schicken. Mycroft arbeitete für die britische Regierung. Er würde wissen, was zu tun war.

Er spürte, wie sich allein beim Gedanken an den verlässlichen Mycroft der beklemmende Knoten in seiner Brust etwas zu lösen begann. Aber gleich darauf stellte sich ihm unversehens die Frage, was genau Mycroft in dieser Angelegenheit tun konnte. Seine Arbeit im Stich lassen und nach Farnham eilen, um die Ermittlungen zu übernehmen? Die Armee entsenden? Viel wahrscheinlicher würde er Onkel Sherrinford einfach ein Telegramm schicken, das Sherlock wieder auf den Teppich bringen sollte.

Als Sherlock aus dem Haus in das helle Morgenlicht hinaustrat, blieb er einen Moment lang stehen, um nach Luft zu schnappen. Er nahm den Geruch von Holzrauch und frisch gemähtem Gras wahr, und auch die modrigen Ausdünstungen der Brauereien in Farnham waren noch schwach zu riechen. Die Sonne, die gerade hinter den Baumspitzen auftauchte, hüllte das Laub in goldenes Licht und zauberte bizarre Blätterschattenbilder auf den Rasen vor ihm, die aussahen wie ausgestreckte Finger.