Doch es war noch eine andere Schattenfigur zu sehen: eine, die sich bewegte. Sein Blick folgte der Figur über den Rasen hinweg bis zur Mauer, die das Haus und die angrenzenden Ländereien von der Straße trennte. Dort, auf der anderen Seite der Mauer, erkannte er eine Gestalt auf einem Pferd. Sie schien ihn zu beobachten. Als er die Hand hob, um die Augen vor der blendenden Sonne zu beschirmen, spornte der Reiter das Pferd an. Daraufhin trabte es auf der Straße davon und verschwand schließlich hinter einer hohen Hecke.
Sherlock ging auf das Haupttor zu. Von Ross und Reiter war keine Spur mehr zu sehen. Aber wenn er Glück hatte, würde er dort einen Hufabdruck vorfinden. Oder vielleicht hatte der Reiter etwas fallen gelassen, wodurch Sherlock in der Lage wäre, ihn zu identifizieren.
Doch er stieß weder auf eine Hufspur noch auf einen fallengelassenen Gegenstand. Dafür aber auf Matthew Arnatt, der draußen neben dem Tor saß und mit zwei Hochrädern auf ihn wartete.
»Wo hast du denn die aufgetrieben?«, fragte Sherlock.
»Gefunden. Dachte, du hast vielleicht Lust auf ’ne Spritztour. Ist bequemer als gehen und man kommt viel weiter.«
Sherlock starrte ihn einen Moment lang an. »Warum?«
Matty zuckte die Achseln. »Hab nichts anderes vor.« Er hielt inne und wandte den Blick in die Ferne. »Hatte daran gedacht, die Leinen loszuwerfen, und mit dem Boot ein Stückchen den Kanal weiter runterzuschippern. Aber das heißt für mich nur, dass ich wieder neu in einer anderen Stadt anfangen muss. Rauskriegen, wo man am besten an Essen kommt und all so was. Hier kenn ich zumindest ein paar Leute. Na ja, ich kenn dich.«
»In Ordnung. Ich könnte etwas Bewegung vertragen. Nach gestern sind meine Muskeln völlig steif.«
»Was war denn gestern?«
»Das werde ich dir beim Radfahren erzählen.« Sherlock blickte die Straße hinunter, die am Tor vorbeiführte. »Ist hier ein Reiter vorbeigekommen und hat eine Weile halt gemacht?«
»Ja. Der ist an mir vorbeigeritten und hat ein Stück weiter vorne gehalten.« Er wies nickend auf die Stelle, an der Sherlock den Reiter gesehen hatte. »Sah aus, als ob er was beobachten würde. Aber dann ist er wieder weitergeritten.«
»Hast du ihn erkannt?«
»Hab nicht richtig auf ihn geachtet. Macht das was?«
Sherlock schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«
Sie schlugen die entgegensetzte Richtung ein, die der Reiter genommen hatte, und radelten die Straße entlang auf Farnham zu. Sherlock hatte lange nicht mehr auf einem Hochrad gesessen und fuhr zunächst heftig schlingernd hinter Matty her. Aber es dauerte nur ein paar Minuten, bis er den Bogen wieder raus hatte und gleichauf mit Matty war. Während sie Seite an Seite auf der Straße dahinfuhren – über sich das Schatten spendende Blättergewölbe der mächtigen Alleebäume und rechts und links Felder voller leuchtend gelber Blumen –, erzählte er Matty, was er gestern erlebt hatte. Er berichtete von dem Mann, den er von dem Haus aus, wo Matty der merkwürdigen Wolke begegnet war, bis zum Lagerschuppen verfolgt hatte, dann von dem mit Kisten beladenen Wagen und schließlich natürlich auch vom Feuer. Matty löcherte ihn permanent mit Fragen, und Sherlock ertappte sich unversehens dabei, wie er kleine Einzelheiten der Geschichte noch einmal wiederholte, sich dabei in Erklärungen verhedderte und irgendwie nicht auf den Punkt kam. Er war alles andere als ein begnadeter Geschichtenerzähler. Und einen Moment lang wünschte er, er hätte jemanden, der einfach die Fakten aus seinem Kopf nehmen könnte, um sie in einer Art und Weise anzuordnen, die einen Sinn ergab.
»Du hast Glück gehabt, dass du da lebend rausgekommen bist«, sagte Matty, als Sherlock zu Ende erzählt hatte. »Ich hatte mal ’nen Job in ’ner Bäckerei. Vor ein paar Monaten. Ist abgebrannt. Ich hatte Schwein, dass ich das überlebt habe.«
»Was ist da passiert?«, fragte Sherlock.
Matty schüttelte den Kopf. »Der Bäcker war ein Idiot. Hat ein Streichholz für seine Pfeife angezündet. Gerade in dem Moment, als wir die Mehlsäcke aufgemacht haben.«
»Und was hatte das mit dem Feuer zu tun?«
Matty sah ihn irritiert an. »Ich dachte, jeder weiß, dass Mehlstaub in der Luft wie Sprengstoff ist. Wenn ein Mehlkörnchen Feuer fängt, breitet es sich in einer Sekunde überall hin aus, wie ein überspringender Funke.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Die ganze Bäckerei wurde in Stücke gesprengt. Ich hatte Glück, weil ich gerade hinter einem Tisch war. Trotzdem hat es einen ganzen Monat gedauert, bis meine Haare wieder ordentlich nachgewachsen sind.« Er blickte zu Sherlock auf und fügte hinzu: »Na ja, egal. Was willst du jetzt machen?«
»Wir sollten alles dem hiesigen Constable erzählen«, antwortete Sherlock. Schon als er das aussprach, merkte er, wie unsinnig das klang. Zwei Leichen, eine seltsame Todeswolke, ein mysteriöses gelbes Puder und eine Bande von Schlägertypen, die einen Lagerschuppen in Brand steckten – das alles hörte sich viel zu sehr nach typischen Phantasiegespinsten von Kindern an.
Immerhin waren tatsächlich zwei Männer gestorben und die rußgeschwärzten qualmenden Überreste des Lagerschuppens würden noch einige Zeit für sich sprechen. Somit ließ sich also zumindest die Hälfte der Geschichte durch Fakten untermauern. Der Rest allerdings bestand im Grunde viel zu sehr aus wilden Spekulationen und phantastischen Mutmaßungen, die einfach aneinandergereiht worden waren, um die Lücken im Gedankengebäude zu schließen.
Ein Blick in Mattys Gesicht verriet Sherlock, dass sein Begleiter so ziemlich dasselbe dachte. Er kniff frustriert den Mund zusammen. Er kannte niemanden in der Gegend, der ihnen helfen könnte, und die Leute, die es hätten tun können, waren nicht in der Gegend. Es war paradox.
Doch dann sah er in Gedanken plötzlich Amyus Crowes eindrucksvolle Gestalt vor sich. Eine Welle der Erleichterung durchdrang ihn und riss die düstere Wolke der Unsicherheit, die ihn eingehüllt hatte, mit sich fort. Es war, als hätte eine Woge kalten Wassers Schlamm und Schmutz von einem Stein gespült. Crowe schien jemand zu sein, der mit einem Jugendlichen so redete, als wäre er erwachsen. Außerdem verfügte er über einen logisch arbeitenden Verstand. Er ließ sich nicht einfach vom äußeren Anschein leiten, sondern gelangte lieber mit Hilfe einzelner Indizien nach und nach zu den richtigen Schlussfolgerungen. Er war der Einzige, der ihnen tatsächlich Glauben schenken könnte.
»Wir werden es Amyus Crowe erzählen«, sagte Sherlock.
Matty blickte skeptisch drein. »Der große Kerl mit der komischen Stimme und den weißen Haaren?«, fragte er. »Bist du sicher?«
Sherlock nickte entschlossen. »Bin ich.« Doch gleich darauf machte er ein langes Gesicht und ließ die Schultern sinken. »Aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Wir müssen wohl warten, bis er wieder bei meinem Onkel auftaucht. Oder meinen Onkel fragen, wo er ist.«
Matty schüttelte den Kopf. »Er hat ein Haus am Stadtrand gemietet«, sagte er. »War früher mal das Cottage vom Jagdhüter. Mit den Rädern können wir wahrscheinlich in einer halben Stunde da sein.« Er bemerkte Sherlocks überraschten Gesichtsausdruck. »Was denn?«, fügte er hinzu. »Ich weiß eben Bescheid, wo hier wer wohnt, so ziemlich jedenfalls. Wenn ich wissen will, wo sich mit großer Wahrscheinlichkeit jederzeit Essen auftreiben lässt, gehört das dazu. Ich muss wissen, wie ein Ort wie dieser so taktet. Wo die Leute wohnen, wo sich der Markt befindet oder das Getreide lagert. Nicht zu vergessen, wo sich der Constable morgens, mittags und abends meist rumtreibt oder welche Obstgärten bewacht werden und welche nicht. Das ist eine Frage des Überlebens.«
.Beobachtungsgabe, dachte Sherlock und erinnerte sich daran, was Amyus Crowe ihm erzählt hatte. Am Ende lief alles auf Beobachtungsgabe hinaus. Denn hatte man erst genug Fakten, konnte man fast alles herausfinden.
Und eben das war das Problem mit den beiden Leichen und der Todeswolke … Sie hatten einfach nicht genug Fakten.