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Unter Umgehung der Hauptstraßen, auf denen zu dieser Tageszeit jede Menge Leute unterwegs sein würden, radelten die beiden durch die Stadt. Abgelenkt vom Wirrwarr aus Vermutungen, Fakten und Hypothesen, das ihm im Kopf herumschwirrte, verging die Zeit für Sherlock wie im Flug. Und kaum hatten sie sich auf den Weg gemacht, hielten sie zu seiner Überraschung auch schon vor dem Steincottage, in dem Amyus Crowe anscheinend wohnte.

Sherlock nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Er spähte zur gegenüberliegenden Wegseite hinüber und sah einen gesattelten Hengst, der auf einer Koppel graste. Einen schwarzen Hengst mit einem braunen Fleck, der sich über seinen Hals zog.

Er kannte das Tier. Wegen der großen Entfernung seinerzeit hätte er es nicht beschwören können, aber er war ziemlich sicher, dass es dasselbe Pferd war, das er bereits zweimal gesehen hatte. Mit einem mysteriösen Reiter auf dem Rücken, der ihn beobachtete.

Ein Schauder durchfuhr ihn, und er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Was ging hier vor sich?

Matty hielt sich im Hintergrund und wartete an der Pforte, während Sherlock durch den Vorgarten auf das Haus zusteuerte. Kurz vor der Tür wandte er sich um und blickte Matty fragend an.

»Ich bleib hier«, verkündete der Junge mit finsterer Miene.

»Was ist denn los?«

»Ich kenn den Kerl nicht. Vielleicht passt ihm meine Nase nicht.«

»Ich sag ihm, dass du in Ordnung bist und man dir vertrauen kann. Dass du mein Freund bist.«

Als ihm das Wort »Freund« über die Lippen kam, verspürte er einen plötzlichen Anflug von Überraschung. Vermutlich war Matty tatsächlich sein Freund, aber der Gedanke verwirrte Sherlock. Noch niemals zuvor hatte er so etwas wie einen Freund gehabt. Definitiv nicht in der Schule und nicht einmal an ihrem Familiensitz, dem Ort, der für ihn als Zuhause galt. Die Kinder, die dort in der Gegend lebten, hatten das Haus der Holmes gemieden. Denn in ihren Augen waren sie gesellschaftlich höher Stehende, Angehörige des Landadels, die sich in unerreichbaren Sphären bewegten. Infolgedessen hatte Sherlock die meiste Zeit alleine verbracht. Selbst Mycroft war kaum über die Rolle einer tröstlichen Präsenz hinausgelangt. Er hatte den ganzen Tag in der Familienbibliothek gehockt und sich dort durch die riesige Büchersammlung gearbeitet, die die Familie über Generationen hinweg erworben hatte. Nicht selten kam es vor, dass Sherlock Mycroft nach dem Frühstück in der Bibliothek allein ließ und ihn dann zur Mittagessenszeit noch in genau derselben Position wiederfand wie am Morgen. Der einzige Unterschied bestand lediglich darin, dass der Stapel ungelesener Bücher geschrumpft war, während sich der Stapel gelesener Bücher vergrößert hatte.

»Trotzdem«, sagte Matty. »Ich warte lieber draußen.«

Sherlock schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Draußen?«, wiederholte er nachdenklich. »Du hältst dich gerne unter freiem Himmel auf, stimmt’s? Ich hab dich noch nicht einmal drinnen in einem Raum gesehen.«

Mattys finsterer Blick verdüsterte sich noch mehr und er wandte den Blick ab. »Mag eben keine Mauern«, brummte er. »Kann’s nicht haben, wenn ich nur durch eine enge Tür abhauen kann. Vor allem wenn ich nicht weiß, mit wem ich es drinnen zu tun habe.«

Sherlock nickte. »Ich verstehe«, sagte er sanft. »Ich weiß nicht, wie lange ich brauche. Vielleicht wartest du ja, bis ich wieder rauskomme.« Er blickte sich zur Tür um. »Das heißt, vorausgesetzt, dass überhaupt jemand zu Hause ist.« Er warf einen kurzen Blick zum schwarzen Hengst hinüber, der sich unverdrossen das Gras schmecken ließ. Dann klopfte er entschlossen an die Tür. Als er sich noch einmal umsah, war Matty samt seinem Rad verschwunden.

Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür. Sherlocks Blick war leicht nach oben gerichtet, in der Erwartung, Amyus Crowe vor sich stehen zu sehen. Verdutzt schaute er kurz ins Leere. Dann senkte er den Blick. Sein Herz stolperte vor Verwirrung und Aufregung, als er feststellte, dass er einem Mädchen ins Gesicht sah. Es war genauso groß wie er. Sie trug dunkle Kleidung und vor dem Hintergrund des finsteren Flures schien ihr Gesicht mitten in der Luft zu schweben.

»Ich … äh … ich suche MrCrowe«, brachte Sherlock hervor und wurde wegen seiner stockenden Stimme rot.

Verzweifelt wünschte er, er könnte sich so selbstbewusst und unberührt anhören, wie Mycroft es scheinbar immer so mühelos zustande brachte.

»Mein Vater ist nicht zu Hause«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme wies dasselbe Näseln auf, wie es bei ihrem Vater der Fall war, wodurch sich der Satz eher anhörte wie Meine Father is nikt su Haus. Ein amerikanischer Akzent? Was immer es auch war, es verlieh ihr jedenfalls etwas Exotisches. »Und wer, soll ich ausrichten, hat nach ihm verlangt?«

Sherlock merkte, dass er einfach nicht den Blick von ihrem Gesicht abwenden konnte. Sie war ungefähr so alt wie er. Ihr langes, rötlich-goldenes Haar fiel gelockt auf die Schultern herab … wie kupferfarbenes Wasser, das auf Steine herabplätscherte und zu allen Seiten davonspritzte. Ihre Augen wiesen einen leichten Violetton auf, den Sherlock bisher nur bei Wildblumen gesehen hatte. Ihre sommersprossige Haut war gebräunt, als ob sie einen großen Teil ihrer Zeit im Freien verbrachte.

»Ich bin Sherlock«, sagte er. »Sherlock Holmes.«

»Du bist das Kind, das er unterrichtet.«

»Ich bin kein Kind. Ich bin genauso alt wie du«, antwortete er mit so viel Bravour, wie er nur eben zustande brachte.

Sie trat nach vorn ins Sonnenlicht, und Sherlock sah, dass sie enganliegende braune Reithosen trug, die sich eher für Jungen als für Mädchen schickten. Und eine Leinenbluse, die die Konturen ihrer Brust betonte.

»Ich werde meinem Vater sagen, dass du hier warst«, verkündete sie, als hätte er überhaupt nichts gesagt. »Ich glaube, er ist rüber zu deinem Onkel gegangen, um sich mit dir zu treffen. Er ist davon ausgegangen, dass heute Unterricht ist.«

»Ich wurde aufgehalten.« Sherlock ertappte sich unversehens dabei, dass er sich rechtfertigte. Plötzlich brachten ihn die Reithose und das Pferd auf der nahen Weide auf einen Gedanken.

»Du hast mich beobachtet!«, platzte es unbedacht aus ihm heraus. Ein plötzliches Gefühl von Verlegenheit und Verwundbarkeit ergriff ihn.

»Nun bilde dir mal nichts ein«, erwiderte sie. »Ich hab dich ein paar Mal gesehen, als ich ausgeritten bin. Das ist alles.«

»Wohin bist du denn geritten? Hinter Holmes Manor ist nichts außer unberührter Wildnis.«

»Genau dahin bin ich geritten.« Sie hob eine Augenbraue. »Reitest du denn?«

Sherlock schüttelte den Kopf.

»Solltest du aber mal lernen. Es macht Spaß!«

Sherlock dachte wieder an die Gestalt, die er in der Ferne gesehen hatte. »Du reitest wie ein Mann«, sagte er.

»Wie meinst du das?«

»Die Frauen, die ich bisher Reiten gesehen habe, sitzen seitlich auf dem Sattel. Mit beiden Beinen auf einer Seite. Auf einem sogenannten Damensattel. Du reitest wie ein Mann und sitzt mit gespreizten Beinen gerade im Sattel.«

»So habe ich es eben gelernt.« Sie klang sauer. »Die Leute hier lachen über mich, weil ich so reite. Aber wenn ich es so mache wie sie, falle ich vom Pferd, sobald ich mal schneller als im Trab reite. Dieses Land ist echt komisch. Es ist völlig anders als zu Hause.« Sie schob sich an ihm vorbei, während die Tür hinter ihr zuschlug, und stolzierte von ihm fort auf die Koppel zu. Er starrte auf ihren Rücken.

»Wie heißt du?«, rief Sherlock.

»Warum willst du das wissen?«

»Damit du in Zukunft nicht bloß ›Amyus Crowes Tochter‹ für mich bist.«

Sie blieb stehen und sprach, ohne sich umzudrehen. »Virginia«, sagte sie. »Das ist eine Gegend in Amerika. Ein Staat an der Ostküste, um genau zu sein. In der Nähe von Washington DC.«

»Ich hab davon gehört. Ist das in der Nähe von Albuquerque?«