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Sie wandte sich um. In ihrem Gesicht lag eine Mischung aus Verachtung und Belustigung. »Nicht im Geringsten. Tausende von Meilen entfernt. Virginia besteht größtenteils aus Wäldern und Bergen. Albuquerque liegt mitten in der Wüste. Wenngleich es auch dort Berge gibt.«

»Aber du kommst aus Albuquerque.«

Sie nickte.

»Warum seid ihr von da fort?«

Virginia antwortete nicht. Stattdessen drehte sie sich erneut um und steuerte wieder auf die Koppel zu. Sherlock folgte ihr und konnte sich keinen Reim darauf machen, was mit ihm los war. Er kam sich vor, wie ein Hundewelpe an der Leine, der nicht mehr seinem eigenen Willen folgen konnte. Er blickte sich um und hoffte, dass Matty nicht noch irgendwo wartete und mitbekam, was los war. Aber der Junge und sein Rad waren nirgends zu sehen.

»Willst du nicht jemandem sagen, dass du fortgehst?«, fragte er, als Virginia mit einem Fuß in den Steigbügel stieg, den Sattelknauf mit der linken Hand ergriff und sich in den Sattel schwang.

»Es ist niemand zu Hause«, rief sie. »Mein Vater ist weg, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte er. Die Art, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte und zugleich harte als auch verletzliche Züge annahm, ließ ihn wünschen, die Worte nie ausgesprochen zu haben.

»Meine Mutter ist tot«, sagte Virginia brüsk. »Sie ist auf dem Schiff gestorben, mit dem wir über den Atlantik nach Liverpool gekommen sind. Deswegen hasse ich dieses Land, und ich hasse es auch, hier zu leben. Wenn wir nicht hergekommen wären, würde sie noch leben.«

Mit einer kurzen Bewegung ihrer Zügel wandte sie das Pferd um. Sherlock starrte ihr nach, während sie auf dem Pferd davontrottete. Er war verlegen und zugleich wütend auf sich, weil er ihr einen solchen Schmerz bereitet hatte.

Als er sich schließlich zum Gehen umwandte, sah er plötzlich Amyus Crowe vor dem Cottage stehen. Geduldig stützte er sich auf seinen Gehstock und blickte Sherlock ruhig an.

»Wie ich sehe, hast du meine Tochter bereits kennengelernt«, sagte er. Er hatte den gleichen Akzent wie Virginia, so dass es sich eher anhörte wie Wie ik seh, hast du meine Tokter bäreits kännengelärned.

»Sie schien nicht sehr von mir beeindruckt zu sein«, gestand Sherlock.

»Das ist sie von niemandem. Galoppiert in Jungenklamotten die meiste Zeit in der Wildnis herum.« Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Kann nicht sagen, dass ich ihr einen Vorwurf mache. Gegen den Willen aus Albuquerque hierher verschleppt zu werden ist genug, um einem Kind die Laune zu vermiesen, auch ohne dass …« Er brach abrupt ab. Sherlock hatte den Eindruck, dass Amyus Crowe eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, bevor er es sich gerade noch anders überlegt hatte.

»Wolltest du etwas Bestimmtes von mir oder ging es nur um die nächste Unterrichtsstunde?«

»Es geht tatsächlich noch um etwas anderes«, erwiderte Sherlock. Rasch schilderte er, was in Farnham passiert war. Er erzählte von dem Mann mit dem gelben Puder, dem Lagerhaus und dem Feuer. Gegen Ende sprach er immer leiser und brach schließlich ab, als ihm bewusst wurde, dass er gerade etwas gestand, das man, von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet, durchaus als kriminelles Vergehen hätte bezeichnen können. Unsicher, wie er Crowes Gesichtsausdruck nun deuten sollte und welche Reaktion gleich folgen würde, blickte Sherlock auf seinen Lehrer.

Crowe jedoch schüttelte nur den Kopf und sah nachdenklich in die Ferne. »Dir ist ja anscheinend nicht langweilig geworden«, sagte er. »Aber ich bin nicht sicher, wie das Ganze zusammenpasst. Alles, was wir haben, sind zwei Leichen und die Möglichkeit, dass eine Seuche ausgebrochen ist. Wenn du meine Meinung hören willst, lass es sein. Lass die Ärzte und Behörden sich darum kümmern. Es gibt da eine nützliche Lebensregel, die sinngemäß besagt, dass man nicht alle Kämpfe ausfechten sollte, die einem begegnen. Entscheide dich für die wichtigen Kämpfe und überlass den Rest jemand anderem. Und in diesem Fall ist es nicht dein Kampf.«

Sherlock spürte, wie sich Frustration in ihm breitmachte, aber er sagte nichts. Er hatte das starke Gefühl, dass dies doch sein Kampf war. Und wenn auch nur, weil niemand sonst den Mann in der Kutsche gesehen hatte und nur er das gelbe Pulver für wichtig hielt. Doch eventuell hatte Amyus Crowe in einer Hinsicht ja doch nicht ganz unrecht. Crowe zu überreden, dass da etwas vor sich ging, gehörte vielleicht nicht zu den Kämpfen, denen Sherlock sich stellen sollte. Vielleicht würde sich irgendwo noch ein anderer Weg ergeben.

»Also gut, was steht denn heute auf dem Plan?«, fragte er stattdessen.

»Mir ist so, als wären wir der Sache mit den essbaren Pilzen noch nicht auf den Grund gegangen«, erwiderte Crowe. »Lass uns eine kleine Wanderung machen und sehen, was wir so finden. Auf dem Weg werde ich dir außerdem einige Wildpflanzen zeigen, die man roh und gekocht essen kann. Aus einer lässt sich sogar ein schmerzlindernder Teeaufguss bereiten.«

»Toll«, sagte Sherlock.

Zusammen verbrachten sie die nächsten paar Stunden damit, durch die Landschaft zu streifen und alles zu essen, was genießbar und in Reichweite war. Fast gegen seinen Willen lernte Sherlock eine Menge darüber, wie man in der Natur nicht nur überlebte, sondern auch gut zurechtkam. Crowe zeigte ihm sogar, wie man sich ein bequemes Bett machte. Hierzu musste man Farnkraut bis auf Schulterhöhe übereinander schichten und dann auf den Haufen klettern. Durch das Körpergewicht wurde der Haufen zusammengepresst, bis er so dick und bequem wie eine Matratze war.

Als er anschließend mit dem Rad zurück nach Holmes Manor fuhr, wollte sich Sherlock eigentlich wieder auf die beiden Toten, den abgebrannten Lagerschuppen, das gelbe Pulver und die mysteriöse Todeswolke konzentrieren. Aber immer wieder landeten seine Gedanken bei Virginia. Mal bei ihren roten Haaren, die sich über ihre Schultern ergossen, mal bei ihrem stolzen geraden Rücken, dann wieder bei ihren eng anliegenden Reithosen und schließlich bei ihrem Körper, wie er beim Davonreiten anmutig auf- und abwippte. Dann fielen ihm plötzlich wieder das gelbe Pulver und die Probe ein, die er im Wald eingesammelt hatte und im Umschlag aufbewahrte.

Wenn die Schlägertypen aus dem Lagerhaus recht hatten, stand der Tod der beiden Männer mit irgendetwas Ansteckendem oder Giftigem in Verbindung. Oder zumindest mit etwas, das bei Berührung gesundheitliche Probleme zur Folge hatte. Angenommen es handelte sich dabei um das gelbe Pulver, dann musste er nur noch herausfinden, was genau es war, ungeachtet Amyus Crowes kaum verhüllter Warnung. Er selbst verfügte definitiv weder über das Wissen noch über die Ausrüstung, um es selbst zu erledigen. Er brauchte einen Chemiker oder einen Apotheker oder etwas in der Art, der das Pulver analysieren könnte, und es war unwahrscheinlich, so jemanden in Farnham zu finden. Auf dem Weg nach Holmes Manor war er mit seinem Bruder durch Guildford gekommen. Und wenn das die nächste größere Stadt war, dann würde Sherlock vielleicht dort jemand Geeigneten finden. Einen geschulten Naturwissenschaftler, der ihm sagen könnte, worum es sich bei dem Pulver handelte. Amyus Crowe hatte einen Experten erwähnt, der dort lebte. Professor Winchcombe. Warum sollte er ihn nicht einfach aufsuchen?

Jetzt musste er nur noch irgendwie nach Guildford kommen.

7

Am nächsten Tag spürte Sherlock Matty auf dem Markt auf. Allmählich war er in der Lage, Mattys Bewegungen vorherzusagen. Es war bereits fast Mittag, und die Händler waren schon seit dem frühen Morgen auf den Beinen gewesen. Infolgedessen würde ihnen mittlerweile der Magen knurren. Da war es nicht unwahrscheinlich, dass sie sich im Wechsel etwas zu essen besorgten. Einer würde dann auf zwei Stände zugleich aufpassen müssen, während der andere unterwegs war, um sich ein Stück Brot, etwas Fleisch, eine Pastete oder vielleicht einen Krug Bier zu genehmigen. Das bedeutete, dass der Mittag zu den Tageszeiten gehörte, während denen die Aufmerksamkeit der Marktleute geteilt war. Das bot Matty die Chance, vom Rand eines Standes unbemerkt ein paar Früchte oder etwas Gemüse zu stibitzen. Vermutlich sollte Sherlock Diebstahl missbilligen. Aber wenn Menschen verhungerten oder Kinder eingefangen und ins Armenhaus verschleppt wurden, war das ebenfalls zu missbilligen. Also handelte es sich vermutlich um ein ethisches Dilemma, das sich die Waage hielt, und um ehrlich zu sein, missgönnte er Matty den einen oder anderen wurmstichigen Apfel keineswegs. Es würde das Britische Empire nicht in den Untergang stürzen.