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Matty nickte. »Ich werd tun, was ich kann«, erwiderte er. »Aber normalerweise erzählt man Kindern nichts.«

Danach ging alles reibungslos über die Bühne. Sherlock fuhr zurück nach Holmes Manor und kam gerade an, als sich die Familie zum Mittagessen versammelte. Er versuchte, seinen Plan in Gedanken noch einmal gründlich durchzugehen. Er prüfte, inwieweit jede Phase auch unvorhergesehenen Ereignissen standhalten würde, und klopfte die Details nach Schwachstellen ab. Aber unversehens ertappte er sich immer wieder dabei, wie seine Gedanken zu Virginia Crowe abschweiften. Allerdings wollte es ihm nicht so richtig gelingen, sich die Konturen ihres Gesichtes und die Form ihres wallenden Haares ins Gedächtnis zu rufen.

Amyus Crowe traf nach dem Mittagessen ein. Anschließend gingen die beiden gleich hinaus auf die Veranda, wo Crowe Sherlocks Denkvermögen einige Stunden lang mit Puzzles und Denkspielen auf die Probe stellte. Vor allem eines blieb Sherlock im Gedächtnis haften.

»Also, stellen wir uns mal Folgendes vor: Drei Burschen beschließen, sich die Kosten für ein Hotelzimmer zu teilen«, sagte Crowe. »Das Zimmer kostet dreißig Schilling die Nacht, einschließlich Abendessen und Frühstück. Offensichtlich haben wir es hier mit einem noblen Haus zu tun. Also zahlt jeder der drei dem Geschäftsführer zehn Schilling. Soweit alles klar?«

Sherlock nickte.

»Gut. Am nächsten Morgen stellt der Geschäftsführer fest, dass er einen gravierenden Fehler gemacht hat. Wegen Umbauarbeiten im Hotel wird das Zimmer eigentlich zu einem Spezialtarif angeboten. Also schickt er einen Pagen zu ihnen aufs Zimmer, um ihnen fünf Schillinge zurückzugeben. Die drei sind so angetan, dass sie beschließen, dem Pagen zwei Schillinge Trinkgeld zu geben, während jeder einen Schilling für sich behält. Also bezahlt am Ende jeder neun, anstatt zehn Schillinge, und der Page hat zwei Schillinge bekommen. Richtig?«

Wieder nickte Sherlock, aber sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um noch mitzukommen. »Moment. Wenn jeder am Ende neun Schillinge zahlt, macht das insgesamt siebenundzwanzig Schillinge. Zählt man die beiden Schillinge, die der Page bekommen hat, hinzu, kommt man auf neunundzwanzig Schillinge. Ein Schilling fehlt.«

»Das ist richtig«, sagte Crowe. »Sag mir, wo er geblieben ist.«

Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte Sherlock damit, auf die Lösung zu kommen. Zunächst probierte er es im Kopf, dann auf Papier. Doch schließlich musste er eingestehen, dass er geschlagen war. »Ich komm’ einfach nicht drauf«, sagte er. »Der Geschäftsführer hat fünf Schillinge zurückgezahlt und damit hat er ihn nicht mehr. Der Page hat zwei Schillinge bekommen, somit hat er ihn auch nicht erhalten. Und die drei haben jeder einen Schilling zurückbekommen, und folglich haben sie ihn auch nicht.«

»Das Problem liegt in der Betrachtungsweise«, erklärte Crowe. »In der Tat, drei mal neun Schillinge macht siebenundzwanzig Schillinge. Aber darin ist das Trinkgeld bereits enthalten. Es macht keinen Sinn, das Trinkgeld zu dieser Summe hinzuzurechnen, um so auf neunundzwanzig Schillinge zu kommen. Wenn du das Problem restrukturierst, wird dir klar, dass die drei Männer fünfundzwanzig Schillinge für das Zimmer und zwei Schillinge für das Trinkgeld gezahlt haben. Dann haben sie jeder einen Schilling zurückbekommen, wodurch wir insgesamt wieder auf dreißig Schillinge kommen. Und somit lautet das Fazit also …?«

Sherlock nickte. »Lass nicht zu, dass jemand anderes das Problem für dich formuliert, weil er dich auf den Holzweg führen könnte. Nimm die Fakten, die man dir zur Verfügung stellt, sieh sie dir in aller Ruhe an, und formuliere das Problem dann in einer logischen Weise, die dich in die Lage versetzt, die Lösung zu finden.«

Amyus Crowe ging vor dem Abendessen, und Sherlock kehrte in sein Zimmer zurück, um darüber nachzudenken, was er gelernt hatte. Zum Abendessen begab er sich wieder hinunter und aß schweigend, während sein Onkel las und seine Tante vor sich hinredete. MrsEglantine stand wieder etwas abseits im Raum und beäugte ihn argwöhnisch. Er mied jedoch einfach ihren Blick. Nur ein einziges Mal kam so etwas wie eine Konversation auf, als sein Onkel von seinem Buch aufsah und sich an die Hauswirtschafterin wandte. »MrsEglantine, was bieten die Gärten von Holmes Manor so an Lebensmittelvorräten?«

»Was Gemüse anbelangt, so bauen wir genug für unsere eigenen Bedürfnisse an«, sagte sie mit verkniffenem Mund. »Bei Geflügel und Eiern sieht es genauso aus. Was Fleisch und Fisch betrifft, kommen wir vermutlich ein paar Wochen zurecht, wenn wir sparsam haushalten.«

Onkel Sherrinford nickte. »Ich denke, wir sollten mit dem Schlimmsten rechnen. Treffen Sie Vorkehrungen zum Räuchern oder machen Sie auf andere Weise so viel Fleisch wie möglich haltbar. Legen Sie Vorräte von allen Grundnahrungsmitteln an. Wenn sich die Pest in Farnham ausbreitet, werden wir vielleicht einige Zeit isoliert sein. Ich weiß, dass Amyus Crowe zu Ruhe und Geduld rät, aber wir sollten Vorkehrungen treffen.« Er wandte sich Sherlock zu. »Apropos MrCrowe … dein Lehrer teilte mir mit, dass du noch nicht viel Zeit in deine Griechisch- und Lateinstudien investiert hast.«

»Ich weiß«, antwortete Sherlock. »MrCrowe und ich haben uns bisher auf … Mathematik konzentriert.«

»MrCrowes Zeit ist wertvoll«, fuhr Onkel Sherrinford in ruhigem und bedächtigem Ton fort. »Und dein Bruder hat einige Kosten auf sich genommen, um sich MrCrowes Dienste zu vergewissern. Vielleicht magst du ja einmal darüber nachdenken.«

»Das werde ich, Onkel.«

»MrCrowe wird morgen Nachmittag wiederkommen. Vielleicht kannst du ja für mich ein bisschen was übersetzen.«

Sherlock dachte an Mattys Prognose, dass sie nicht vor dem Abendessen zurück sein würden, und zuckte innerlich zusammen. Er konnte jedoch seinem Onkel unmöglich erzählen, dass er nach Guildford fuhr. Er wollte nicht riskieren, sich ein Verbot einzufangen. Als er aufblickte, sah er, dass MrsEglantine ihn mit ihren kleinen funkelnden Knopfaugen musterte.

»Ich werde da sein«, versprach er und wusste schon, als er die Worte aussprach, dass er es wohl kaum rechtzeitig zurück schaffen würde. Doch über eine Erklärung konnte er sich später den Kopf zerbrechen, wenn es soweit war.

Als er das Abendessen beendet hatte, entschuldigte er sich und begab sich in die Bibliothek. Sein Onkel, der noch im Esszimmer speiste, hatte vor einem oder zwei Tagen gesagt, dass Sherlock die Bibliothek nutzen dürfe, wenn er wolle. Aber dennoch kam er sich wie ein Eindringling vor, als er in die gedämpfte Atmosphäre des Raumes eintauchte, in dem es in jeder Ecke und jedem Winkel nach Leder und altem Papier roch und dessen Vorhänge zum Schutz vor dem Sonnenlicht zugezogen waren. In der Hoffnung, etwas über die örtliche Geographie zu finden, durchstöberte er die Regale. Er stieß auf verschiedene mehrbändige Enzyklopädien, in Lederbänden zusammengebundene Jahrgänge von Kirchenzeitschriften, jede Menge kirchengeschichtliche Werke und auf unzählige Sammelbände von Predigten, die mutmaßlich von angesehenen Geistlichen vergangener Tage stammten. Schließlich fand er ein paar Regale mit Titeln über lokale Geschichte und Geographie.

Er entschied sich für ein Buch über die Wasserwege in Surrey und Hampshire. Dann verließ er die Bibliothek und kehrte auf sein Zimmer unter dem Dach zurück.

Ungefähr eine halbe Stunde lang saß er an der Nachricht, in der er mitteilen wollte, dass er früh ausgegangen sei und erst später am Tage wieder zurückkehren würde. Die ersten paar Versuche gerieten zu detailliert und enthielten diverse unwahre Angaben darüber, was er wo und wann zu tun beabsichtigte. Aber nach einer Weile erkannte er, dass seine Botschaft umso überzeugender ausfiel, je einfacher sie war und je weniger nachprüfbare Fakten sie enthielt. Als er die Nachricht verfasst hatte, legte er sich auf sein Bett und las das Buch, das er aus der Bibliothek mitgenommen hatte. Sherlock blätterte durch die Buchseiten und hielt Ausschau nach Stellen, in denen der Fluss Wey erwähnt wurde oder – besser noch – auf Landkarten verzeichnet war, die er sich einprägen konnte. Doch schon bald fand er mehr, als er erwartet hatte. Der Wey zum Beispiel war nicht nur einfach ein Fluss, sondern offensichtlich etwas, das man »Wasserstraße« nannte. Flüsse neigten dazu, sich in willkürlichen Windungen durch die Landschaft zu schlängeln. Die für den Handelsverkehr zwischen den Städten gebauten Kanäle hingegen verliefen, wo es irgend möglich war, in gerader Richtung. Mit stufenartigen Konstruktionen, den »Schleusen«, konnte das Niveau des Wasserstandes je nach Form der Landschaft angehoben oder abgesenkt werden. Eine Wasserstraße, so stellte er fest, war ein Fluss, den man durch Wehre und Schleusen schiffbarer gemacht hatte, wodurch sich der natürliche Fluss in etwas verwandelte, das mehr Ähnlichkeit mit einem Kanal hatte.