»Wo ist der Firmensitz?«, rief Sherlock zurück.
»Das Hauptbüro befindet sich in der Nähe des Marktes. Aber sie haben auch einen Lagerschuppen am Stadtrand. Und da hat der Kerl auch gearbeitet. Ist vermutlich der, den die Schlägertypen abgefackelt haben.«
Während das von Albert gezogene Boot weiter auf dem Fluss dahinglitt, grübelte Sherlock über das nach, was er von Matty erfahren hatte. Der Tote war ein Schneider gewesen und hatte Uniformen hergestellt. Der Lagerschuppen, in dem er gearbeitet hatte, hatte voller Kisten gestanden. Kisten, die die Schlägertypen auf einen Wagen geladen hatten.
Kisten voller Uniformen? Das war nicht ganz unwahrscheinlich. Aber das erklärte immer noch nicht, wie und warum der Mann gestorben war. Und den Tod des zweiten Mannes im Wald erklärte es ebenfalls nicht.
Der Himmel im Osten hatte eine dunkelviolette Farbe angenommen, die an eine frische Quetschwunde erinnerte. Die Bäume, die das Flussufer säumten, waren lediglich dunkle Schemen vor einem noch dunkleren Hintergrund. Dicht über dem Horizont leuchtete ein einzelner heller Stern. Vor sich konnte Sherlock einen schwarzen Bogen erkennen, der ihren Weg kreuzte. Vermutlich eine Brücke. Vielleicht sogar die Brücke, auf der Matty und er nur wenige Tage zuvor bereits einmal gesessen hatten, um Fische im Fluss zu beobachten.
Plötzlich gab Albert ein kurzes Wiehern von sich, als ob ihn etwas erschreckt hätte. Sherlock starrte ans Ufer und versuchte, vor dem Hintergrund der dunklen Hecken, die das Ufer säumten, die Konturen des Tieres auszumachen. Der Klang der Hufe auf dem Pfad änderte sich. Für Sherlock hörte es sich an, als wollte das Pferd vor etwas ausweichen, das ihm zu nahe kam.
Matty rief dem Tier etwas Beruhigendes zu – eher tröstliche Laute als richtige Worte –, aber Sherlock konnte am Tonfall erkennen, dass Matty beunruhigt war. Was war los? Hatte Albert vor einem verwilderten Hund Angst, der sich dort irgendwo herumtrieb, oder hatte er nur etwas Unerwartetes gewittert?
Sherlock wollte gerade nach Matty rufen und fragen, was es für ein Problem gäbe, als er hinter den schwarzen Konturen von Mattys Kopf und Schultern eine Bewegung auf der Brücke wahrnahm.
Sherlock wandte den Blick auf die dunklen Umrisse der Brücke, die vor ihnen den Fluss überspannte.
Etwas störte plötzlich den sanften Verlauf des Brückenbogens: ein massiger Schatten, nicht ganz in der Brückenmitte. Nein, zwei massige Schatten, denn der erste bekam Gesellschaft von einem zweiten. Es schien, als würden sie sich einen Augenblick lang dicht aneinandergelehnt unterhalten.
Bürger aus Farnham, die früh unterwegs waren? Wilderer vielleicht?
Im nächsten Augenblick wurden Sherlocks Theorien auch schon über den Haufen geworfen, als auf einmal ein Streichholz auf der Brücke aufflammte. Für einen Moment fiel der Lichtschein auf zwei Gesichter, die er augenblicklich erkannte.
Es waren Clem und Denny, die beiden Schurken aus dem Lagerhaus.
Im nächsten Augenblick hatte sich das aufflammende Streichholzlicht in ein warmes Leuchten verwandelt, das sich über das Backsteinmauerwerk ergoss. Clem hielt eine Lampe in die Höhe. Ihr Schein fiel auf das sich nähernde Boot herab. Als sie auf die Brücke zutrieben, konnte Sherlock sehen, wie sich Clems Mund zu einem grausamen Lächeln verzog. Der Schein der Lampe umriss Mattys Gestalt, als er sich am Bug aufrichtete. Es schien so, als wollte Matty etwas sagen. Aber Clem schwang die Lampe über seinem Kopf und tauchte die Umgebung für einen Moment in wild flackernde Schatten. Dann schleuderte er sie auf Mattys Kopf zu.
Matty duckte sich. Die Lampe prallte zweimal auf und zerbarst. Metalltrümmer und Glassplitter fegten über das Bootsdeck auf Sherlock zu und hinterließen dabei eine breite Spur von brennendem Öl. Winzige Flammenzungen leuchteten auf dem Holz und breiteten sich gleich darauf gierig auf dem Furnier aus. Sherlock blickte sich hilflos um. Herrgott nochmal, sie waren mitten auf einem Fluss, umgeben von lauter Wasser, und er hatte keine Ahnung, wie man es dahin befördern könnte, wo sie es brauchten!
Sein Blick blieb an der Pferdedecke hängen, von der Matty gesprochen hatte. Sie lag zusammengeknüllt in der Ecke nahe der Ruderpinne. Sherlock packte sie und schleuderte sie nach vorne in Richtung der Flammen, wobei er darauf achtete, dass er einen Zipfel in der Hand behielt, damit sie nicht ins Wasser rutschte. Rauch stieg unter der Decke empor, aber keine Flammen. Sherlock zog die Decke wieder zu sich zurück. Das Feuer war zur Hälfte erloschen, erstickt vom dicken Stoff der Decke, doch in den Fugen der Bootskonstruktion tasteten sich immer noch hartnäckige kleine Flammenzungen voran.
Matty stieß einen Schrei aus, als eine weitere Öllampe Sherlocks Kopf nur knapp verfehlte und auf den Bootsrand prallte. Von dort fiel sie in den Fluss, wo sie ein kurzes wütendes Zischen von sich gab, als der brennende Docht mit dem Wasser in Berührung kam und gleich darauf versank. Sherlock wirbelte herum und tauchte die Decke neben der Bootswand ins Wasser. Ehe sie zu viel Wasser aufgesogen hatte, zog er sie rasch wieder heraus und breitete sie erneut über dem Holz aus. Dieses Mal hörte er ein Zischen, als der wassergetränkte Stoff die letzten Flammen erstickte.
In der Erwartung, gleich eine dritte Öllampe auf sich zufliegen zu sehen, blickte Sherlock zur Brücke hoch, als das Boot darunter hindurchfuhr. Aber wie es schien, war ihren Angreifern die Munition ausgegangen. Stattdessen stellte er schockiert fest, dass ein Körper auf ihn hinuntersauste. Clem war von der Brücke gesprungen. Der Gangster landete auf dem Dach des Bootes. Unter seinen schweren Stiefeln brachte er das Holz zum Bersten und fiel rückwärts aufs Deck. Doch rasch rappelte er sich wieder auf und kam mit zusammengebissenen Zähnen und wütend funkelnden Augen auf Sherlock zu. Mit der rechten Hand langte er an seinen Gürtel und zog ein übel aussehendes Messer mit gekrümmter Klinge heraus.
»Dachtest wohl, du kannst so mir nix dir nix in den Schuppen einbrechen und einfach so davonkommen, was?«, knurrte er. »Man hat dich gesehen, wie du vor den Flammen abgehauen bist. Wie eine dreckige Ratte. Und nichts anderes bist du.« Er langte mit der linken Hand nach Sherlocks Schulter. »Mach dich bereit, deinem Schöpfer guten Tag zu sagen.«
Sherlock drängte sich auf dem winzigen Deck rückwärts in eine Ecke. Er spürte den Luftzug, als Clems Finger unmittelbar vor seinen Augen ins Leere griffen. Der Mann stand so nah, dass Sherlock den widerlichen Schweißgeruch wahrnahm, der seiner groben, schmutzigen Kleidung entströmte, und mühelos den Dreck unter den abgekauten Fingernägeln erkennen konnte.
Clem langte wieder nach vorne und diesmal hatte er mehr Glück. Wie Schraubzwingen bohrten sich seine Fingerspitzen in Sherlocks Schulter. Einen Moment lang hielt er ihn böse grinsend einfach nur fest gepackt und verstärkte dabei genüsslich langsam den Druck, als wollte er Sherlocks Schulter zerquetschen. Dann löste er plötzlich seinen Griff, nur um in der gleichen Sekunde seine Finger in Sherlocks Haare zu krallen und ihn an sich heranzuzerren. Gegen seinen Willen musste Sherlock vor Schmerz aufschreien, als sein Haar fast von der Kopfhaut gerissen wurde. Bizarrerweise hatte Sherlock einen winzigen Augenblick lang das Bild vor Augen, wie Albert am Flussufer Grasbüschel ausrupfte.
Clem hielt Sherlock dicht an sich gepresst und starrte in die Augen des Jungen hinab. Sherlock spürte, wie Clems rechte Hand, die das Messer hielt, nach oben glitt. Jeden Moment würde ihm die Kehle aufgeschlitzt werden, und er wusste noch nicht einmal, warum!
Etwas traf Clem von hinten. Geschockt weiteten sich seine Augen und Sherlock fühlte, wie sich der eiserne Griff in seinen Haaren löste. Er machte einen Schritt zurück und stieß Clem mit beiden Händen von sich. Der Mann leistete keinen Widerstand, sondern vollführte einen stolpernden Rückwärtsschritt. Mit schlurfenden, übertrieben vorsichtigen Schritten drehte er sich langsam um.
Matty stand hinter Clem. Mit dem Bootshaken in den erhobenen Händen.