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Einen Moment lang konnte Sherlock sich keinen rechten Reim darauf machen, was geschehen war. Aber dann, als Clem sich vollends zu Matty umwandte, sah er eine tiefe klaffende Wunde, die sich von seinem Schädel bis zum dicken Stiernacken hinunterzog. Durch die aufgeschlitzte Haut blitzten weiße Knochen aus dem strömenden Blut hervor. Matty hatte ihn mit dem Bootshaken mitten auf den Hinterkopf getroffen.

Clem machte einen langsamen Schritt auf Matty zu. Dann noch einen. Er hob die Hand, die das Messer hielt. Aber auf einmal schien er nicht mehr zu wissen, was man damit machte. Er starrte dämlich auf das Messer. Dann kippte er zur Seite und fiel steif wie ein gefällter Baum über Bord. Mit einem mächtigen Platscher knallte er aufs Wasser, und die Fontäne schoss fast bis zur Brücke empor. Einen kurzen Augenblick konnte Sherlock Clems Gesicht erkennen, während er in die Tiefe sank. Mit ungläubigem Staunen starrten seine verrückten Augen zu Sherlock empor. Gleich darauf verschwand er im trüben Wasser und sank dem schlammigen Grund des Flusses entgegen. Das Letzte, was Sherlock wahrnahm, waren seine Finger, die sich wie Seegras in der Strömung schlängelten. Doch dann waren auch sie verschwunden.

8

Als die Sonne vollends über den Horizont gestiegen war und wie eine reife Frucht über den schwarzen Silhouetten der Bäume hing, war Sherlock immer noch am Zittern. Seine Kopfhaut brannte wie Feuer, und Clems eiserner Griff, mit dem er ihn an der Schulter gepackt hatte, hatte einen tiefsitzenden Schmerz hinterlassen. Sherlock hatte keine Zweifel, dass, wenn er sich die Mühe machte und nachsah, er auf fünf rotunterlaufene Stellen stoßen würde: fünf ovale Blutergüsse, hervorgerufen von vier Fingern und einem Daumen.

Nachdem Clem im Wasser versunken war und sein Komplize das Weite gesucht hatte, hatten sich Matty und Sherlock nach dem Überfall einige Augenblicke einfach nur angestarrt, noch ganz schockiert von dem brutalen Angriff, der ebenso schnell über sie hereingebrochen, wie er wieder vorüber gewesen war.

»Der hat nicht versucht, das Boot zu klauen«, hatte Matty schließlich geflüstert. »Der wollte es zerstören. Hatte schon mit Typen zu tun, die es mir klauen wollten. Aber warum sollte es jemand in Brand setzen? Hab den Kerl noch nie gesehen! Was hab ich denen bloß getan?«

»Die waren hinter mir her«, hatte Sherlock widerstrebend geantwortet. »Das war einer von den Männern aus dem Lagerschuppen. Ich glaube, der hatte das Sagen. Zumindest über die Leute, die dort waren. Aber er muss mich gesehen haben, als ich dem Brand entkommen bin. Und bestimmt ist ihm klargeworden, dass ich sie belauscht habe. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie sie uns bis hierher aufs Boot verfolgt haben.« Ungläubig hatte er den Kopf geschüttelt. »Was führen sie nur im Schilde? Was für ein Geheimnis ist so wichtig, dass sie bereit sind, uns umzubringen?«

Matty hatte Sherlock nur angestarrt, als hätte er ihn betrogen. Dann hatte er sich abrupt umgedreht und die Leine geschwungen, um das Pferd wieder anzutreiben.

Nun, da die Sonne ein ganzes Stück gestiegen war und seine Schulter schmerzte wie ein verrotteter Zahn, näherten sie sich Guildford, und Sherlock hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, was es war, auf das er eigentlich hätte kommen sollen. Alles, was er bisher vorzuweisen hatte, waren Fragen, und durch den Überfall waren sogar noch ein paar weitere hinzugekommen.

Eine kleine Meute verwahrloster Hunde folgte ihnen am Flussufer entlang. Aufmerksam beobachteten die Hunde sie in der Hoffnung, dass sie vielleicht etwas Essbares über Bord warfen. Beim Gedanken daran, wie sehr die Hunde Matty in dieser Hinsicht ähnelten, musste Sherlock schmunzeln. Er sah nach vorn. Sein Blick blieb auf Mattys Hinterkopf haften, und das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. Er hatte Mattys Boot, das einzige richtige Heim, das er besaß, einem Risiko ausgesetzt. Schlimmer noch: Er hatte Mattys Leben aufs Spiel gesetzt. Und wofür?

An den Flussufern tauchten nun allmählich immer mehr Leute auf. Einige, die offensichtlich zur Stadt wollten oder aus ihr kamen, benutzten das Ufer als bequemen Reiseweg. Andere hingegen saßen auf Kisten und hielten selbstgebaute Angelruten ins Wasser, in der Hoffnung, ein paar Fische zum Frühstück zu fangen. Vor ihnen stieg Rauch in den Himmel auf. Offensichtlich hatten die Bewohner von Guildford das tägliche Kochpensum schon in Angriff genommen. Dann tauchten die ersten Gebäude auf. Einige waren nichts weiter als Hütten, die man aus Holzplanken krumm und schief zusammengenagelt hatte. Bei anderen hingegen handelte es sich schon um solidere Gebilde aus Backstein.

Dann säumten erste, vereinzelte Abschnitte mit steinernen Wegplatten das Ufer. Nach und nach folgten sie in immer dichteren Abständen aufeinander, bis sie sich zu einem befestigten Uferweg verbunden hatten.

Als sie sich nach einer Weile einer Ansammlung von Gebäuden näherten, die dicht geballt am Ufer standen und wie Lagerhäuser aussahen, begann Matty, die Leine einzuholen. Das Pferd wurde langsamer und das Boot glitt sanft ans Ufer. Matty hatte das Manöver perfekt vorausberechnet, denn das Boot kam direkt neben einem Eisenring zum Halten, der in eine der Wegplatten eingelassen war. Sherlock hatte erwartet, dass Matty das Seil am Ring verknoten würde. Doch stattdessen langte er nach unten in den kleinen Bugstauraum und zog eine Kette heraus, deren eines Ende offensichtlich an einer im Holz eingelassenen Ringöse befestigt war. Er warf die Kette ans Ufer und sprang hinterher. Dann schlang er die Kette durch den Ring, zog ein großes altes Vorhängeschloss aus der Tasche und führte den Schlossbügel durch einige Kettenglieder. Mit einem Klick drückte er den Bügel ins Schloss.

»Hier kannste niemandem trauen«, murmelte er und mied immer noch Sherlocks Blick. »’N Seil können sie durchschneiden. Aber um eine Kette und ein Vorhängeschloss durchzukriegen, brauchen sie ’ne ganz schöne Zeit. Mehr Zeit, als das Boot wert ist, denk ich mal.«

»Was ist mit dem Pferd?«, fragte Sherlock.

»Wenn er jemanden findet, der ihn besser behandelt als ich, kann er gerne gehen«, sagte Matty. Er betrat den Grasstreifen, der sich neben dem Plattenweg erstreckte, und blickte sich dann zu Sherlock um. Sein Gesichtsausdruck wirkte nicht gerade bedauernd, aber wenigstens war er wieder bereit, Sherlock in die Augen zu blicken.

»Er ist zu alt und lahm, um einen Pflug oder eine Kutsche zu ziehen«, erklärte er. »So ein Boot ist schon das Äußerste und selbst dann ist er langsam. Es lohnt sich nicht, ihn zu klauen.«

»Es tut mir leid, was passiert ist«, sagte Sherlock verlegen.

»Ist nicht deine Schuld«, antwortete Matty und wischte sich mit einem Ärmel über den Mund. »Du bist da in was reingeraten und kommst nicht mehr raus. Und ich steck jetzt auch mit drin. Am besten wir versuchen, so schnell wie möglich aus der Sache rauszukommen und das Ganze abzuhaken.« Er sah sich um. »Das hier ist Dapdune Wharf«, sagte er. »Merk dir die Stelle. Wenn wir getrennt werden, was sehr wahrscheinlich ist, dann treffen wir uns hier wieder. Ich werd nicht ohne dich abhauen.« Skeptisch musterte er Sherlock. »Und ich bin ziemlich sicher, dass du nicht ohne mich wegkommst. Also dann, wie war noch mal der Name von dem Kerl, den du suchst?«

»Professor Winchcombe«, sagte Sherlock.

»Dann lass uns sehen, wo wir den finden. Und vielleicht können wir auf dem Weg ja noch was zum Frühstück auftreiben.«

Sie kehrten dem Fluss den Rücken und folgten einem Pfad, der allem Anschein nach zu einer größeren Verkehrsstraße führte. Nachdem sie eine Stunde marschiert waren und diverse Passanten befragt hatten, fanden sie heraus, dass Professor Winchcombe in der Chaelis Road wohnte, die – so die Auskunft – von der High Street abging. Anschließend brauchten sie noch eine halbe Stunde, bis sie endlich die High Street gefunden hatten. Die Hauptstraße von Guildford führte hügelaufwärts vom Fluss fort und war auf beiden Seiten von zwei- und dreistöckigen Ladengebäuden gesäumt, deren schöne Fassaden aus schwarzen Holzträgern und weißem Putz das Straßenbild bestimmten. Vor den Geschäften hingen Holzschilder, auf denen Bilder von Fischen, Brot, Gemüse und allen anderen Arten von Waren zu sehen waren.