Die Leute, die auf der Straße flanierten und in die Schaufenster schauten, waren zum großen Teil besser gekleidet als die Bewohner von Farnham. Eine ganze Weile hatte Sherlock nicht mehr so viele feine, saubere, farbenfrohe und mit Litzen und Bändern verzierte Stoffe gesehen.
Am Fuß der High Street waren vor einer hüfthohen Mauer, die die Stadt vom Fluss trennte, ein paar Stände aufgebaut, wo man Früchte und kaltes Bratenfleisch kaufen konnte. Matty schickte sich schon an, auf die Mauer zu krabbeln, um im Rücken der Standbesitzer vielleicht etwas Essbares zu ergattern, das von den Ständen gefallen war. Aber Sherlock ging einfach auf einen der Stände zu und verwendete etwas von dem Geld, das Mycroft ihm geschickt hatte, um ihnen beiden etwas zum Frühstück zu besorgen. Argwöhnisch musterte Matty ihn. Sherlock hatte den Eindruck, dass Essen für Matty irgendwie besser schmeckte, wenn man nicht dafür bezahlen musste. Doch was ihn selbst anbelangte, fand er jedenfalls keinen größeren Gefallen an Essen, das vorher durch den Dreck gerollt war oder um das man mit einem wütenden Hund hatte kämpfen müssen.
Um ans Ziel zu kommen, mussten sie die halbe High Street hinaufmarschieren, und als die beiden Jungen endlich die Stelle erreichten, an der die Chaelis Road begann, waren sie außer Atem. Die Straße führte in einem Bogen von der High Street fort und verschwand nach wenigen Metern in einer Kurve. Sherlock setzte sich in Bewegung, blieb aber gleich wieder stehen, als er merkte, dass Matty ihm nicht folgte. Er drehte sich um und sah seinen Begleiter fragend an.
»Was ist los?«
Matty schüttelte den Kopf. »Nicht ganz mein Revier«, sagte er und beäugte misstrauisch die stattlichen Häuser und tadellos gepflegten Vorgärten, die die Straße säumten.
»Du gehst allein. Ich warte hier.« Er blickte sich um. »Jedenfalls irgendwo hier in der Nähe.«
Sherlock nickte. Matty hatte recht. Die Anwesenheit eines »dreckigen Gassenjungen« – wie MrsEglantine es wohl ausgedrückt hätte – würde vermutlich Probleme bereiten. Sherlock klopfte sich, so gut es ging, den Dreck von der Kleidung und machte sich auf den Weg.
Das Haus, das er suchte, lag unmittelbar hinter der Kurve. Er drückte die Gartenpforte auf und ging auf die Eingangstür zu, die von einer Säulenhalle im griechischen Stil vor Wind und Wetter geschützt wurde. An einer der Säulen war eine Messingplatte angeschraubt. »Professor Arthur Albery Winchcombe. Dozent für Tropenkrankheiten« war dort auf eingravierten Lettern zu lesen.
Bevor ihn seine Nerven vollends im Stich ließen, zog Sherlock kurz entschlossen am Klingelzug.
Ein Mann in strengem schwarzem Anzug und grauer Weste erschien an der Tür. Durch winzige Brillengläser, die kaum seine Augen bedeckten, starrte er auf Sherlock hinab.
»Ist Professor Winchcombe zu Hause?«, fragte Sherlock.
Der Mann – Sherlocks Vermutung nach der Butler – schwieg einen Moment. »Wer, darf ich ausrichten, verlangt nach dem Professor?«, sagte er schließlich.
Sherlock öffnete schon den Mund, um sich vorzustellen. Doch dann zögerte er. Vielleicht wäre es schlauer, wenn er sich auf den Namen eines anderen berief. Auf jemanden, von dem der Professor schon mal gehört hatte. Mycroft, vielleicht? Oder Amyus Crowe? Was wäre wohl am besten?
Am Ende entschied er sich aufs Geratewohl. »Bitte richten Sie dem Professor aus, dass ein Schüler von MrAmyus Crowe ihn zu konsultieren wünscht«, brachte er hervor.
Der Butler nickte. »Wären Sie so gütig, im Wohnzimmer zu warten?«, fragte er und öffnete Sherlock die Tür. Zu Sherlocks Überraschung wurde er nicht wie ein ziemlich abgerissen aussehender und nervöser Junge behandelt, sondern eher wie ein Angehöriger der königlichen Familie. Mit vornehmer Geste bedeutete ihm der Butler, ihm durch die geflieste Halle zu einer nahen Tür zu folgen.
Die Tapete, die die Wände des Wohnzimmers bedeckte, war mit Bildern von hohen, dünnstieligen Pflanzen bedeckt, die wie riesige Gräser aussahen. Noch nie hatte Sherlock solche Gewächse gesehen. Wie es aussah, zogen sich an den Stängeln in gleichmäßigen Höhenabständen zueinander so etwas wie Ringe herum. Die fremdartige Pflanze übte eine solche Faszination auf Sherlock aus, dass er immer noch auf die Tapete starrte, als die Tür schließlich aufging und ein Mann das Zimmer betrat. Er war klein – noch kleiner als Sherlock –, und sein Bäuchlein wölbte sich hervor, als hätte er ein Kissen unter sein Jackett gestopft. Auf dem Kopf trug er einen komischen kleinen Hut ohne Krempe, der einfach nur wie ein kurzer dicker Turm aus roter Seide aussah.
»Bambus«, sagte er.
»Pardon?«
»Die Pflanzen auf der Tapete. Bambus. Eine immergrüne mehrjährige Pflanze aus der Familie der Gräser. Ich habe in meiner Jugend einige Zeit in China verbracht und mich damit ziemlich vertraut gemacht. Bambus ist das am schnellsten wachsende holzartige Gewächs der Welt, weißt du. Unter bestimmten Bedingungen können die größeren Bambusarten über 60 Zentimeter am Tag wachsen. Die Tapete stammt übrigens aus China. Sie ist aus Reispapier.«
Sherlock war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Papier, das man aus Reis macht?«
»Ein allgemein verbreitetes Missverständnis«, erwiderte der Professor. »Tatsächlich wird Reispapier aus dem Saft eines kleinen Baumes hergestellt. Tetrapanax papyrifer, um genau zu sein.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Du sagst, du bist Amyus Crowes Schüler?«, fragte er. Hinter seinen Brillengläsern musterte er Sherlock mit intelligenten, vogelähnlichen Augen, die vor Neugierde nur so sprühten.
»Ja, Sir«, erwiderte Sherlock und kam sich merkwürdigerweise vor, als wäre er wieder zurück in der Schule.
»Ich habe heute Morgen einen Brief von MrCrowe bekommen. Seltsam. Wirklich sehr seltsam. Bist du deswegen hier?«
»Ging es in dem Brief um die zwei toten Männer?«
Der Professor nickte. »Darum ging es in der Tat.«
»Deswegen bin ich hier. Ich habe MrCrowe sagen hören, Sie seien ein Experte für Krankheiten.«
»Ich bin auf Tropenkrankheiten spezialisiert. Aber ja, mein Fachgebiet deckt einen Großteil der schweren Infektionskrankheiten ab. Vom Tapanuli-Fieber und Schwarzer Formosa-Fäulnis bis hin zu Cholera und Typhus. Wenn ich richtig verstehe, sind diese beiden Männer an einer unbekannten Krankheit gestorben.«
»Ich bin nicht sicher.« Sherlock wühlte in seiner Jackentasche und zog den Umschlag hervor, in dem Mycrofts Brief gesteckt hatte und der nun eine Probe des gelben Pulvers enthielt. »Das hier habe ich in der Nähe einer der beiden Leichen eingesammelt. Aber ich weiß, dass beide Tote damit in Kontakt waren«, fügte er hastig hinzu. »Ich habe keine Ahnung, worum es sich handelt, doch ich glaube, dass es etwas mit den beiden Todesfällen zu tun hat. Es könnte giftig sein.«
Der Professor streckte die Hand nach dem Umschlag aus. »In diesem Fall werde ich es mit Vorsicht behandeln«, sagte er.
»Sie glauben mir also?«, fragte Sherlock.
»Du hast den ganzen weiten Weg auf dich genommen, um mit mir zu reden. Also vermute ich mal, dass du es ernst meinst. Das Mindeste, was ich tun kann, ist es genauso ernst zu nehmen wie du. Und außerdem: Ich kenne Amyus Crowe und halte ihn für einen integeren Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich mit einem Schüler abgibt, der sich gerne albernen Streichen hingibt.« Er lächelte plötzlich, was seinem Gesicht einen fast engelhaften Ausdruck verlieh. »So, und jetzt lass uns mal einen Blick auf die Probe werfen, die du mitgebracht hast.«
Sherlock folgte ihm durch die Eingangshalle in einen anderen Raum. Die Wände waren mit Büchern bedeckt, und vor dem Fenster – dort, wo es am hellsten war – stand ein riesiger Schreibtisch. Mitten zwischen wild verstreuten Papierbögen, Zeitschriften und einem Kerzenleuchter mit brennender Kerze sah Sherlock ein Mikroskop, das auf einem Blatt grünem Löschpapier stand.