Professor Winchcombe setzte sich auf einen mit Leder überzogenen Stuhl an den Schreibtisch und forderte Sherlock mit einer Geste auf, sich ebenfalls einen Stuhl zu holen und neben ihm Platz zu nehmen. Er zog einen unbeschriebenen Pergamentbogen aus einer Schublade und legte ihn auf das Löschpapier neben das Mikroskop. Dann schlitzte er vorsichtig die Umschlagklappe mit einem Brieföffner auf und schüttete den Inhalt auf den Pergamentbogen. Innerhalb weniger Sekunden hatte er ein Häufchen gelben Pulvers vor sich. Mit der Spitze des Brieföffners nahm er ein paar Pulverkörnchen auf und platzierte sie auf eine gläserne Platte, die bereits auf dem Mikroskoptisch – der flachen Platte unter dem Objektiv – eingespannt war.
Er justierte einen Spiegel so unter dem Mikroskoptisch, dass dieser das Kerzenlicht zunächst durch ein Loch im Mikroskoptisch, dann durch die Glasplatte und daraufhin weiter bis zur Linse reflektierte.
Während Sherlock versuchte, nicht zu heftig zu atmen, um das Pulver nicht wegzupusten, beobachtete er, wie der Professor ins Mikroskop starrte, dabei erst am Rädchen für die Grobeinstellung und dann an dem für die Feineinstellung drehte, bis die Pulverkörnchen schließlich scharf gestellt waren.
»Ah«, sagte er, um dann gleich darauf ein »Hm« hinzuzufügen. Er nahm seinen roten Hut ab, kratzte sich am Kopf und platzierte die Kopfbedeckung wieder an exakt derselben Stelle, wo sie zuvor gesessen hatte.
»Was ist es?«, flüsterte Sherlock.
»Bienenpollen«, sagte der Professor. »Ziemlich eindeutig.«
»Bienenpollen?«, wiederholte Sherlock, nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte.
»Hast du jemals Bienen studiert?«, fragte der Professor und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Faszinierende Kreaturen. Ich empfehle sie dir als ernsthaftes Forschungsobjekt.« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Sie sammeln Pollen von Blüten und transportieren sie in ihren Stock.«
»Was genau ist Pollen?«, fragte Sherlock, der ein merkwürdiges Gefühl der Enttäuschung verspürte. »Ich habe das Wort schon einmal gehört, war aber nie so sicher, was es bedeutet.«
»Pollen«, erklärte der Professor, »ist ein Pulver, das aus Microgametophyten besteht, die sich wiederum zu den männlichen Gameten – beziehungsweise Reproduktionszellen – von Samenpflanzen entwickeln. Der Pollen wird von den Staubblättern, den männlichen Fortpflanzungsorganen einer Blüte, produziert. Durch den Wind oder nahrungssuchende Insekten gelangt der Pollen zum Stempel, also dem weiblichen Fortpflanzungsorgan einer anderen Blüte der gleichen Pflanzenart. Dort verschmelzen sie miteinander und bilden einen Samen.« Er musterte seine Brillengläser und setzte sich dann das Gestell wieder auf die Nase.
Sherlock versuchte verzweifelt, die Ausführungen des Professors zu verarbeiten, aber dann merkte er, dass der Mann schon wieder weitersprach. »Was die Bienen anbelangt, so sammeln sie Pollen aus Blüten und formen ihn zu einer ballartigen Masse. Diesen Ball transportieren sie dann auf ihren Hinterbeinen in den Bienenstock. Der Nutzen für die Pflanze besteht natürlich darin, dass die Biene bei ihrer Reise von Blüte zu Blüte etwas Pollen vom Staubblatt einer Blüte auf den Stempel einer anderen fallen lässt. Auf diese Weise wird die Pflanze bei der Fortpflanzung unterstützt. Soweit so gut, nun zum Bienenpollen: Bienen haben auf der Oberseite der Hinterbeine winzige Härchen, die sozusagen als Korb fungieren. Dort hinauf rollen sie die Pollenkörner und vermischen sie mit Blütennektar, um einen Ball daraus zu formen. Und das nennt man dann ›Bienenpollen‹.«
»Und ist der harmlos?«
»Für die meisten Menschen ja. Obwohl es in der Tat ein paar Unglückliche gibt, bei denen der Kontakt mit Bienenpollen unangenehme körperliche Reaktionen auslöst.« Er lehnte sich zurück und dachte einen Augenblick lang nach. »Könnte das vielleicht die beulenartigen Schwellungen verursacht haben, die MrCrowe in seinem Brief beschrieben hat? Hm, ich bezweifele es. Unverträglichkeiten gegen Bienenpollen tendieren dazu, sich in Form von Hautausschlägen zu äußern. Und dass es zufällig zwei Menschen mit einer solch extremen Sensibilität kurz hintereinander getroffen hat, ist eher unwahrscheinlich.« Plötzlich knallte er mit der Hand auf den Tisch. Sherlock fuhr erschrocken hoch. »Natürlich! Die naheliegende Lösung habe ich völlig übersehen!«
»Naheliegend?« Sherlock zermarterte sich das Gehirn. Was konnte die naheliegende Erklärung für beulenartige Schwellungen sein, wenn Bienen involviert waren? Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. »Stachel!«, rief er.
»Gut gemacht, mein Junge. Ja, Bienenstachel. Äußerst giftige Bienenstachel zudem. Die meisten Bienen hierzulande haben Stachel, die Schmerzen und leichte, punktartige Schwellungen verursachen. Aber nicht so etwas wie die Beulen, die MrCrowe beschrieben hat.«
Er blickte Sherlock an. »Du musst sie auch gesehen haben. Wie groß waren sie?«
Sherlock hielt die rechte Hand empor. »Ungefähr die Größe meines letzten Daumengliedes«, erwiderte er.
»Das deutet auf eine äußerst starke Giftform hin. Und vermutlich auf eine äußerst aggressive Bienenart.«
»Woher wissen Sie so viel über Bienen?«, fragte Sherlock.
Der Professor lächelte. »Ich habe dir erzählt, dass ich ein paar Jahre in China verbracht habe. Die Chinesen halten Bienen bereits seit Tausenden von Jahren, und bei meinem Aufenthalt habe ich festgestellt, dass dort Honig wegen seiner medizinischen Wirkung sehr geschätzt wird. Laut den Aufzeichnungen des großen medizinischen Werkes Ben cao gang mu oder auch Das Buch heilender Kräuter, das vor ungefähr dreihundert Jahren von einem Mann namens Li Shi Zhen verfasst wurde, wirkt Honig stimmungsaufhellend, schmerzlindernd, entgiftend, beruhigend, sehkraftverbessernd und lebensverlängernd.« Er wandte den Blick von Sherlock ab und starrte an die Wand. Sherlock hatte den Eindruck, dass er sich an Dinge erinnerte, die vor vielen Jahren geschehen waren. »Hier in Großbritannien sind wir an die eher gutmütige Europäische Honigbiene, Apis mellifera, gewöhnt. Die in Asien vorkommende Riesenhonigbiene, Apis dorsata, ist beträchtlich aggressiver, und ihr Stich ist viel schmerzhafter. Trotzdem wird sie von den Chinesen wegen ihres Honigs in Bienenstöcken gehalten. Im Gegensatz zu unseren Stöcken, die wie Glocken geformt sind, benutzen die Chinesen ausgehöhlte Baumstämme oder zylinderförmige Webkörbe zur Bienenhaltung.
Manchmal konnte man die chinesischen Bauern dabei beobachten, wie sie ihre Bienenstöcke hinauf in die Berge trugen. Zwei auf einmal, jeweils befestigt am Ende einer Bambusstange, die sie auf der Schulter balancierten. Ich erinnere mich daran, wie beim Klettern die Bienen wie eine Rauchwolke um sie herumgeschwirrt sind.«
Wie eine Rauchwolke. Die Worte trafen Sherlock wie ein Schlag.
»Das war es«, hauchte er.
»Was war was?«
»Ich hab gesehen, wie sich von einer der Leichen ein Schatten entfernt hat. Und mein Freund hat das Gleiche aus einem Fenster kommen sehen. In der Wohnung, in der die andere Leiche entdeckt wurde. Das müssen Bienen gewesen sein!«
Der Professor nickte. »Sie müssten dann ziemlich klein sein. Andernfalls hättest du den Schwarm nicht mit einem Schatten verwechselt. Und vermutlich hatten sie nicht die auffällige gelb-schwarze Körperfärbung einer typischen Hummel, sondern waren eher dunkel. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es afrikanische Bienen gibt, die klein und außerdem nahezu schwarz sind. Und darüber hinaus auch sehr aggressiv.«
»Würden Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte Sherlock.