Darauf fiel Sherlock beim besten Willen keine Antwort ein, die ihm passend erschien. In peinliches Schweigen versunken, gingen sie eine Weile nebeneinander her.
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie schließlich.
»In Guildford. Ich musste da jemanden besuchen.« Plötzlich fiel Sherlock etwas ein. Er langte in seine Jacke und zog den Brief hervor, den Professor Winchcombe geschrieben hatte. »Den muss ich deinem Vater geben. Weißt du, wo er ist?«
»Nach dir suchen zum Beispiel? Du solltest doch jetzt eigentlich Unterricht haben.«
Er blickte zu ihr hoch, unsicher, ob sie es ernst gemeint hatte. Doch auf ihren Lippen zeigte sich ein leises Lächeln. Sie sah ihn an, und er wandte den Blick ab.
»Gib mir den Brief«, sagte sie. »Ich sorge dafür, dass er ihn bekommt.«
Er hielt ihr den Brief entgegen, doch gleich darauf zog er die Hand auch schon wieder etwas zurück. »Es ist äußerst wichtig«, sagte er mit zögernder Stimme. »Es geht um die beiden toten Männer.«
»Dann sorge ich dafür, dass er ihn sofort bekommt.« Sie nahm ihm den Brief aus der ausgestreckten Hand. Ihre Finger berührten ihn nicht. Aber Sherlock meinte fast, die Wärme zu spüren, die von ihnen ausstrahlte, als sie so dicht an ihm vorbeistreiften.
»Die Männer sind an der Pest gestorben, nicht? Das sagen jedenfalls die Leute.«
»Es ist nicht die Pest. Es waren Bienen. Deswegen musste ich auch nach Guildford. Um mit einem Experten für Krankheiten zu sprechen.« Er ertappte sich dabei, wie er immer schneller redete. Aber irgendwie schien er machtlos dagegen zu sein. »Ich habe ein gelbes Pulver bei einer der Leichen gefunden. Ich wollte, dass mir jemand sagt, was es ist, und so hab ich etwas davon nach Guildford gebracht. Es hat sich herausgestellt, dass es Bienenpollen sind. Deswegen sind wir auch zu dem Schluss gekommen, dass Bienen für die Todesfälle verantwortlich sind.«
»Aber das hast du nicht gewusst, als du das Pulver gefunden hast«, stellte Virginia fest.
»Nein.«
»Oder als du es eingesammelt und den ganzen Weg nach Guildford transportiert hast.«
»Nein.«
»Bei dem, was du gewusst hast – oder besser gesagt, was du nicht gewusst hast –, hätte das Pulver auch genauso gut etwas sein können, das die Seuche verursacht. Etwas Ansteckendes.«
Sherlock kam sich vor, als würde man ihn in die Ecke drängen. »Ja«, sagte er und dehnte dabei das Wort so auseinander, dass es eher klang wie »Jaa-haa.«
»Also hast du dein Leben aufgrund der Tatsache riskiert, dass du dachtest, alle anderen wären auf dem Holzweg und du könntest ihnen das beweisen.«
»Ähm, vermutlich.« Er fühlte sich irgendwie verlegen. Sie hatte recht. Dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, war für ihn wichtiger gewesen als seine eigene Sicherheit. Er hätte sich auch irren können – schließlich wusste er nicht viel über Krankheiten oder wie sie übertragen wurden. Bei dem gelben Pulver hätte es sich um eine Substanz handeln können, die als Folge der Krankheit von den Körpern der Männer produziert worden war. Zum Beispiel so etwas wie trockene Hautschuppen. Etwas, das den Krankheitserreger in sich getragen und weiterverbreitet hätte. Er war so versessen darauf gewesen, das Puzzle zu lösen, dass er daran gar nicht gedacht hatte.
Den Rest des Rückweges legten sie schweigend zurück.
9
»Du enttäuschst mich, Junge.« Sherrinford saß hinter seinem mächtigen Eichenholzschreibtisch in seinem Studierzimmer, während Amyus Crowe hinter der linken und MrsEglantine hinter der rechten Schulter seines Onkels Position bezogen hatten. Die schwarze Kleidung der Hauswirtschafterin fügte sich so perfekt in die dunklen Schatten ein, dass nur ihr Gesicht und ihre Hände zu sehen waren. In Kombination mit Onkel Sherrinfords langem weißen Bart und den diversen hebräischen, griechischen, lateinischen und englischen Bibelausgaben, die sich überall auf dem Tisch stapelten, wirkte das Ganze Sherlocks Empfinden nach so, als würden Gott und zwei hinter seinem Thron stehende Racheengel ihn gerade zur Rechenschaft ziehen. Ein Effekt, der nur durch den Umstand verdorben wurde, dass Onkel Sherrinford seinen Morgenmantel über dem Anzug trug.
Sherlocks Gesicht brannte vor Scham und Zorn. Er wollte protestieren und erklären, dass er für sein Verhalten einen guten Grund gehabt hatte.
Aber ein kurzer Blick in das Gesicht seines Onkels verriet ihm, dass das Debattieren zu nichts führen würde. »Es tut mir leid, Sir«, brachte er endlich hervor, als ein langer Moment vergangen war und er merkte, dass sein Onkel eine Antwort erwartete. »Ich werde es nicht wieder tun.«
»Dein Vater – mein Bruder – vertraute dich meiner Obhut an. In der Annahme, dass ich mit deiner moralischen Erziehung fortfahren und dich davon abhalten würde, in schlechte Gesellschaft zu geraten und sittlich zu verwahrlosen. Es beschämt mich zutiefst, feststellen zu müssen, dass ich bei beiden Aufgaben versagt habe.«
Wieder eine lange Pause. Sherlock fühlte sich gedrängt, noch einmal zu versichern, dass es ihm leid tue. Doch wenn er sich wiederholte, so sein Gefühl, würde ihm das als vorlautes Verhalten ausgelegt werden. »Ich weiß, dass ich mich nicht allein auf den Weg nach Guildford hätte machen sollen«, log er schließlich.
»Das ist noch dein geringstes Vergehen«, verkündete Sherrinford. »Heute früh hast du dich vor Sonnenaufgang wie ein gemeiner Krimineller aus meinem Haus geschlichen und …«
»Sein Bett war nicht einmal berührt«, unterbrach ihn MrsEglantine. »Er muss noch vor Mitternacht gegangen sein.«
Sherlock musste sich so zusammenreißen, seinen Ärger zu unterdrücken, dass er spürte, wie seine Schultern bebten. Er wusste, dass sie log. Er hatte geschlafen. Mehrere Stunden lang. Und er hatte das Haus kurz vor Tagesanbruch verlassen. Aber trotz seines brennenden Verlangens, alles richtigzustellen, konnte er ihr nicht widersprechen. Sie versuchte, ihn noch tiefer in den Schlamassel zu ziehen, und wenn er mit ihr stritt, würde ihm das bloß als Trotz ausgelegt und entsprechend bestraft werden.
»Ich werde deinem Bruder schreiben«, fuhr Sherrinford fort, »und ihm sagen, dass du das Vertrauen, das ich in dich gesetzt habe, enttäuscht hast. Und ab sofort wird es dir eine Woche lang verboten sein, das Haus zu verlassen.«
»Wenn es gestattet ist«, ergriff Amyus Crowe von seiner Position hinter Sherrinford aus mit gedehnter Stimme das Wort, »würde ich gerne ein oder zwei Worte zugunsten des Jungen vorbringen.« Er langte in sein blendend weißes Jackett und holte einen Briefumschlag hervor. »Dieser Brief, den der Junge von dem berühmten Professor Winchcombe mitbrachte, hat unsere Gegend vor einem Panikausbruch wegen der vermeintlichen Pest bewahrt.
Dass er die Pollenprobe auf eigene Faust zur Analyse gebracht hat, zeugt von einem starken Willen, einem Hang zur Unabhängigkeit und dem Widerstreben, die Dinge einfach so für bare Münze zu nehmen. Alles Eigenschaften, die man fördern sollte, würde ich sagen.«
»Schlagen Sie etwa vor, dass der Junge um eine Bestrafung herumkommen sollte, MrCrowe?«, ließ sich MrsEglantine mit aalglatter Stimme vernehmen.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Crowe. »Statt ihn zu striktem Hausarrest zu verurteilen, würde ich vorschlagen, die Strafe so zu gestalten, dass er nur in meiner Begleitung hinausdarf. Auf diese Weise wird es mir weiterhin möglich sein, die Vereinbarung, die ich mit seinem Bruder getroffen habe, einzuhalten.«
Sherrinford Holmes überlegte einen Moment lang, während er sich mit der rechten Hand über den Bart strich. Dann verkündete er das Urteiclass="underline" »Wir werden einen Kompromiss schließen. Für den Rest des Tages und auch morgen noch stehst du unter striktem Hausarrest. Auch danach wirst du die ganze Zeit das Haus nicht verlassen, es sei denn, du hast Unterricht bei MrCrowe. Hier im Haus hast du mit Ausnahme der Mahlzeiten auf deinem Zimmer zu bleiben.« Seine Lippen zuckten. »Allerdings werde ich dir gestatten, jedes Buch deiner Wahl aus meiner Bibliothek zu nehmen, damit du dir die Zeit vertreiben kannst. Nutze diese Möglichkeit weise, um dich zu bessern und über deine Taten nachzudenken.«