»Das werde ich, Sir«, sagte Sherlock, der sich geradezu dazu zwingen musste, die Worte über die Lippen zu bringen. Die Spannung in seinen Schultern ließ etwas nach. »Danke, Sir.«
»Geh jetzt. Und kehre nicht vor dem Abendessen zurück.«
Sherlock wandte sich ab und verließ die Bibliothek. Er verspürte den verzweifelten Drang, sich zu rechtfertigen und klarzustellen, dass das, was er getan hatte, das Richtige gewesen war.
Aber er wusste gut genug, wie die Welt der Erwachsenen funktionierte, um sich darüber im Klaren zu sein, dass ein Debattieren die Dinge nur schlimmer machen würde. Das Richtige zu tun, spielte keine Rolle. Regeln zu befolgen hingegen schon.
Er begab sich zunächst auf den breiten, mit Teppich überzogenen Treppenstufen in den ersten Stock hinauf und stieg dann die schmalere, hölzerne Treppe ins Dachgeschoss empor, wo sich sein Zimmer befand. Er lag auf seinem Bett, starrte an die Decke und ließ seinen wirren Gedanken freien Lauf.
Der restliche Tag und der darauf folgende vergingen wie im Nebel. Sein durch die Abenteuer der vergangenen Tage müder und geschundener Körper nahm die Gelegenheit wahr, sich durch so viel Schlaf wie möglich zu erholen. Aber während der Wachphasen wirbelten die Gedanken so ziellos in seinem Kopf herum wie Motten um eine Kerzenflamme. Was ging da wirklich vor sich? Was genau führte Baron Maupertuis im Schilde, und wer würde ihn stoppen?
Er verbrachte einige Zeit damit, im Kopf einen Brief an seinen Bruder zu verfassen. Nicht weil er erwartete, dass Mycroft irgendetwas unternahm. Vielmehr wollte er endlich einmal jemandem, dem er vertraute, alles erzählen, was passiert war. Als Worte und Formulierungen schließlich so waren, wie er es sich vorstellte, brachte er den Brief zu Papier.
Lieber Mycroft,
ich wünschte, ich könnte Dir berichten, dass ich Deinem Rat gefolgt wäre und mich in einen aus Studien in Onkel Sherrinfords Bibliothek und Erkundungsstreifzügen durch die lokale Natur bestehenden Wirbel von Aktivitäten gestürzt hätte.
Aber wie es aussieht, habe ich mich in Schwierigkeiten gebracht, und ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. Die gute Nachricht ist – wenn es denn überhaupt eine gibt –, dass ich zwei Freunde gefunden habe. Einer von ihnen heißt Matthew Arnatt und lebt auf einem Kanalboot. Ich denke, Du wirst ihn mögen. Bei dem anderen Freund handelt es sich um Virginia Crowe. Sie ist die Tochter von Amyus Crowe, der sagt, dass er mir etwas über die Natur beibringen will und darüber, wie man die Welt um sich herum beobachtet. Tatsächlich jedoch glaube ich, bringt er mir bei, wie man richtig denkt. Ich wünschte, Du hättest es nicht für nötig erachtet, für die Ferien einen Tutor für mich zu finden. Aber von allen Tutoren, auf die Deine Wahl hätte fallen können, ist MrCrowe, glaube ich, der Beste.
Seltsame Dinge sind hier in Farnham geschehen, und ich wünschte, ich könnte Dir davon erzählen. In der Stadt ist die mit Beulen bedeckte Leiche eines Mannes aufgefunden worden, und wenig später stießen wir auf eine weitere Leiche mit den gleichen Symptomen auf dem Grund von Holmes Manor.
Die Stadtbewohner dachten, es könnte sich womöglich um die Pest handeln. Aber ein Mann namens Professor Winchcombe hat bewiesen, dass die beiden von Hunderten von Bienenstichen getötet wurden. Ich glaube, dass die Bienen irgendwie in Verbindung mit einem Mann namens Baron Maupertuis stehen, dem ein Lagerschuppen in Farnham gehört. Aber ich weiß nicht, worin diese Verbindung genau besteht.
Der Lagerschuppen ist abgebrannt, wobei alle Hinweise und Spuren vernichtet wurden. Wie das passierte, werde ich Dir berichten, wenn wir uns wiedersehen.
Ansonsten ist das Leben hier, kurz gesagt, viel interessanter, als ich es erwartet hätte – wenn ich denn aus dem Haus komme. Zur Zeit habe ich nämlich Hausarrest und muss auf meinem Zimmer bleiben, weil ich mich allein nach Guildford begeben habe, um Professor Winchcombe zu treffen. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich Dir erzählen werde, wenn wir uns wiedersehen.
Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Vater? Ist er immer noch auf dem Weg nach Indien, und hast Du inzwischen weitere Informationen darüber, wann die Probleme dort vorbei sein könnten?
Richte Mutter und unserer Schwester liebe Grüße aus. Bitte, besuch mich bald.
Dein Bruder
Sherlock
Nachdem er den Brief beendet und die feuchte Tinte mit Löschpapier getrocknet hatte, legte er ihn auf den Tisch in der Halle, als er zum Mittagessen hinunterkam. Von dort würde ihn ein Dienstmädchen einsammeln, um ihn zum Postamt nach Farnham zu bringen. Als er später zum Abendessen wieder in die Halle kam, war der Brief verschwunden. MrsEglantine durchquerte gerade die Halle, und kaum hatte sie ihn erblickt, zeigte sich auf ihrem Gesicht, das förmlich durch die dunklen Schatten zu schweben schien, ein eisiges Lächeln. Hatte sie den Brief gesehen? Hatte sie ihn etwa gelesen? War er überhaupt zum Postamt gebracht worden oder hatte sie ihn einfach zerrissen? Sherlock sagte sich, dass das albern war. Was für Gründe sollte sie schließlich dafür haben? Aber Mycrofts Warnung hallte in seinem Kopf wider. Sie ist keine Freundin der Holmes-Familie.
Als er am nächsten Tag spät nachmittags in seinem Zimmer lag, schwirrten ihm diese Gedanken noch immer im Kopf herum. Der entfernte Gong, der zum Abendessen rief, weckte ihn aus einem halbschlafähnlichen Zustand. Er begab sich hinunter ins Erdgeschoss. MrsEglantine kam gerade aus dem Speisezimmer und musterte ihn mit höhnischem Lächeln, bevor sie wieder verschwand.
Sherlock verspürte keinen Hunger. Er starrte einige Augenblicke lang auf die Esszimmertür und versuchte, sich dazu zu überwinden hineinzugehen und etwas zu sich zu nehmen. Nur um bei Kräften zu bleiben. Aber er brachte es einfach nicht fertig.
Er drehte sich um und durchquerte die Halle, in der Hoffnung, in der Bibliothek irgendwelche Bücher über Bienen oder Imkerei zu finden.
Auf halbem Weg fiel sein Blick auf einen Brief, der auf dem Silbertablett auf dem Beistelltisch lag. Hatte der vorher noch nicht dort gelegen oder hatte Sherlock ihn schlicht und einfach übersehen? Da er im ersten Augenblick dachte, dass es ein weiterer Brief von Mycroft sein könnte, nahm er das Schreiben auf. Sherlocks Name stand zusammen mit der Adresse von Holmes Manor vorne auf dem Umschlag, aber es war nicht Mycrofts Handschrift. Die Buchstaben waren geschwungener … femininer. Wie konnte das sein?
Sherlock sah sich um, halb überzeugt, dass sein Blick auf MrsEglantine fallen würde, die im Schatten lauerte und ihn beobachtete. Doch es war niemand sonst zu sehen. Er nahm den Brief und öffnete die Eingangstür. Er stellte sich in den Schein der frühen Abendsonne, aber blieb immer noch im Türrahmen, so dass man ihn nicht beschuldigen konnte, das Haus verlassen zu haben.
Im Umschlag befand sich ein einzelner, zart lavendelfarbener Briefbogen. Unterhalb seines Namens und seiner Adresse stand dort geschrieben:
Sherlock,
auf der Gemeindewiese unterhalb der Burg findet ein Jahrmarkt statt. Triff mich morgen früh dort um neun – wenn Du Dich traust!
Komm allein.
Virginia
Einen winzigen Augenblick lang wurde Sherlock von einem merkwürdigen Schwindelgefühl ergriffen und er holte tief Luft. Virginia wollte sich mit ihm treffen? Aber warum? Beide Male, als sie einander begegnet waren, hatte er den Eindruck gehabt, dass sie ihn nicht besonders mochte. Und sie hatten weiß Gott nicht sehr viel miteinander gesprochen. Und trotzdem wollte sie ihn jetzt sehen? Alleine?