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Doch er konnte nicht gehen! Man hatte ihm streng verboten, das Haus zu verlassen!

Fieberhaft versuchte er, sich eine Rechtfertigung einfallen zu lassen, die es ihm erlauben würde, am nächsten Tag das Haus zu verlassen, ohne erneut in Schwierigkeiten zu geraten. Es musste sich doch einfach irgendein logisch klingendes Argument konstruieren lassen, das Onkel Sherrinfords strengem prüfendem Blick standhalten würde. Virginia hatte ihn gefragt, ob sie sich treffen könnten. Das Wenige, das er von ihr wusste, ließ ihn vermuten, dass sie unabhängiger als englische Mädchen in ihrem Alter war. Sie konnte reiten – und zwar nicht nur im Damensattel, sondern richtig –, und sie war absolut dazu imstande, alleine umherzuziehen. Aber wenn sie ein englisches Mädchen wäre, würde sie keinesfalls ohne ihre Familie zum Jahrmarkt gehen. Und das bedeutete, dass es plausibel war, wenn Sherlock den Brief als Einladung interpretieren würde, sich mit Virginia und ihrem Vater zu treffen. Was wiederum bedeutete, dass er das Haus verlassen konnte, ohne gegen die Vereinbarungsbedingungen zu verstoßen, die zwischen ihm und seinem Onkel getroffen worden waren. In Sherrinfords Weltbild war es schlichtweg ausgeschlossen, dass ein Mädchen eine Verabredung mit einem Jungen treffen könnte, ohne dass jemand aus ihrer Familie dabei war. Sherlock wusste es natürlich besser. Aber wenn man ihn zur Rede stellte, würde er das einfach nicht verraten.

Doch dann brachte ihn ein plötzlich aufkommender Gedanke aus dem Gleichgewicht. Was, wenn jemand von Holmes Manor auf dem Jahrmarkt wäre?

Aber nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, kam er zur Überzeugung, dass weder bei Onkel und Tante noch bei MrsEglantine die Wahrscheinlichkeit sehr groß war, dass sie dort waren. Und falls er jemand von den Dienstmädchen, Köchen oder Arbeitern auf dem Jahrmarkt träfe, würden sie ihn vermutlich nicht einmal erkennen.

Er verbrachte den Rest des Abends und einen großen Teil der Nacht damit, sich wechselweise davon zu überzeugen, dass er am nächsten Morgen gehen sollte und dann wiederum, dass er es nicht sollte. Gegen Morgen war er immer noch nicht sicher. Aber als er zum Frühstück die Treppe herunterkam, ertappte er sich plötzlich dabei, wie er in Gedanken Virginias Gesicht vor sich sah, und prompt beschloss er, dass er gehen würde. Komme, was da wolle.

Er blickte auf die Standuhr. Erst kurz nach acht! Wenn er sich jetzt auf den Weg machte und das Fahrrad nahm, könnte er gerade noch pünktlich dort sein. Er wusste, wo sich die Burg befand. Sie lag am Hang oberhalb der Stadt, und bei der Grasfläche unmittelbar vor der Burg handelte es sich wahrscheinlich um besagte Gemeindewiese.

Sollte er eine Nachricht hinterlassen? Nach den letzten Vorkommnissen mochte das eine gute Idee sein. Also schrieb er rasch ein paar Zeilen auf die Rückseite des Umschlags, in denen er erklärte, dass er fortgegangen sei, um sich mit Amyus Crowe zu treffen, und legte die Nachricht auf das Silbertablett. Dann eilte er halb gehend, halb rennend nach draußen, um sein Rad zu holen, wobei er sich duckte, sobald er an einem Fenster vorbeikam, und sich hinter Mauern verborgen hielt, wo immer es möglich war.

Auf der Fahrt zur Burg schwirrte ihm nur so der Kopf vor lauter Spekulationen und verwirrender Gedanken. Noch nie zuvor hatte er eine Freundin gehabt. Natürlich war da noch seine Schwester. Aber sie war älter als er und hatte andere Interessen wie zum Beispiel Malerei, Krocket und Klavierspielen.

Und natürlich war da auch noch ihre Krankheit, die sie während eines Großteils von Sherlocks Kindheit ans Bett gefesselt und zu einem zurückgezogenen Leben gezwungen hatte. Zu Hause hatte er sich niemals mit irgendjemandem richtig angefreundet. Geschweige denn mit einem Mädchen. Und Deepdene war eine reine Jungenschule. Er war sich nicht ganz sicher, wie er mit Virginia umgehen, worüber er mit ihr reden und wie er sich ihr gegenüber benehmen sollte.

Als er nach Farnham hineinkam, bog er in eine Seitenstraße ein. Sie führte bergauf auf die Burg zu, die er am Hang des Hügels über der Stadt aufragen sah. Er strampelte sich ab, bis seine Beinmuskeln zu brennen begannen. Dann stieg er ab und schob das Rad neben sich her. Als er schließlich das Burggelände erreichte, war er ziemlich erschöpft.

Vor ihm auf der Wiese ausgebreitet und beschienen von der Morgensonne bot sich Sherlock ein Kaleidoskop menschlichen Lebens, das wie eine eigenständige kleine Miniaturstadt wirkte. Stände und mit Seilen begrenzte, ringförmige Areale waren beiderseits von breiten, grasbewachsenen Gassen errichtet worden, auf denen die Leute umherflanierten und auf verschiedene Attraktionen zeigten. Über allem lag ein Rauchschleier, und der Geruch von brutzelndem Fleisch, Tierdung und menschlichen Ausdünstungen brachten seine Nase zum Kribbeln. Es gab Bereiche für Jongleure, Boxkämpfe, Stockkämpfe und Hundekämpfe. Scharlatane verkauften Wunderarzneien, die aus wer weiß was zusammengebraut worden waren. Feuerschlucker beförderten flammende Kohlestücke auf Metallgabeln in ihren Mund. Einige Stadtbewohner nahmen an einem Grimassenwettbewerb teil, bei dem es einen Hut zu gewinnen gab, andere rannten für einen Schlafanzug um die Wette oder schaufelten bei einem Wettfressen Hasty-Pudding in sich hinein, wobei es für denjenigen, der am meisten vertilgen konnte, Geld zu gewinnen gab.

Sherlock hielt in der Menge nach Virginias unverwechselbarem kupferfarbenen Haarschopf Ausschau. Aber auf der Wiese drängten sich so viele Menschen, dass einzelne Personen kaum auseinanderzuhalten waren. Da sie keinen Treffpunkt genannt hatte, blieben ihm nur zwei Möglichkeiten. Entweder wartete er dort, wo er gerade stand, in der Hoffnung, dass sie ihn finden würde, oder er stürzte sich in die Menge, um nach ihr zu suchen. Und das Warten hatte noch nie zu Sherlocks Stärken gehört.

Also stellte er – wenn auch mit leicht mulmigem Gefühl – sein Rad an einem Zaun am Wiesenrand ab. Er war sich zwar nicht ganz sicher, ob es bei seiner Rückkehr immer noch da sein würde, aber in dem dichten Gewühl konnte er es sowieso nicht weiter mitnehmen.

Die erste Attraktion, auf die er stieß, als er über die Wiese schlenderte, war ein riesiges, bis zum Rand mit Wasser gefülltes Fass. Leute standen dicht geschart darum herum und stachelten sich gegenseitig an. Die Wasseroberfläche brodelte, was Sherlock zu der Vermutung veranlasste, dass irgendetwas dort drin gekocht wurde. Allerdings war unter dem Fass kein Feuer. Einer aus der Menge – ein dürrer junger Bursche, der ein gepunktetes Taschentuch um den Hals geschlungen hatte – versuchte ein rotbäckiges Mädchen im weißen Kleid zu beeindrucken, das neben ihm stand. Er händigte dem Mann, dem offensichtlich das Fass gehörte, eine Münze aus, packte mit beiden Händen den Rand des Fasses und tauchte seinen Kopf mit einem Schwung ins Wasser.

Sherlock, der immer noch halbwegs überzeugt war, dass das Wasser kochte, stockte der Atem. Aber wie es aussah, passierte dem Jungen nichts. Offenbar auf der Suche nach etwas, bewegte er den Kopf im Wasser wackelnd hin und her. Alle paar Sekunden stieß sein Kopf zunächst vor, um daraufhin gleich wieder zurückzuschnellen.

Und dann zog er schließlich ganz den Kopf heraus. Wasser lief von Gesicht und Hals auf seine Schultern hinab, aber das schien ihn nicht zu stören. Zwischen seinen Zähnen steckte irgendetwas. Etwas Silbriges, das sich heftig windend versuchte, aus der Umklammerung zu befreien. Im ersten Moment kam Sherlock nicht darauf, um was es sich handelte. Aber dann wurde es ihm klar. Es war ein Aal, kaum länger als der Finger eines Mannes. Verblüfft ging Sherlock weiter. Er hatte schon vom Apfeltauchen gehört, aber vom Aaltauchen? Unglaublich.

»Sehen Sie das außergewöhnlichste Schaf der Welt!«, schrie ein Ausrufer vor einem Stand. »Sehen Sie ein Schaf mit vier ganzen Beinen und einem halben Fünften am Bauch. So etwas werden Sie nie wieder zu Gesicht bekommen!« Er fing Sherlocks Blick auf, als dieser vorbeiging. »Sie da, junger Herr. Sehen Sie sich das erstaunlichste Schauspiel auf Gottes grüner Erde an. Das werden Sie nie vergessen. Alle Mädchen werden an Ihren Lippen hängen, wenn Sie von dem unglaublichen Schaf mit vier Beinen und einem halben Fünften berichten.«