Sherlock ging weiter und kam an einer Bude vorbei, wo zwei Handpuppen in einem Fenster zu sehen waren. Die Puppen wurden von einem im Stand verborgenen Spieler bedient. Ihre mit überdimensionalen Nasen und Kinnladen versehenen Köpfe waren aus Holz geschnitzt, und ihre Kleidung bestand aus bunten Schleifen. Als Sherlock die Puppen betrachtete, legte eine – bei fast vollständig gekrümmtem Oberkörper – ihren Kopf auf den unteren Fensterrand, während die andere diesen daraufhin augenblicklich mit einer Miniaturaxt abhackte. Der Kopf fiel ab, und grellrote Schleifen schossen explosionsartig aus dem Halsstumpf hervor, um das herausspritzende Blut zu simulieren. Jubelnd schwenkte die Menge die Hüte.
Etwas abseits auf der einen Seite des Jahrmarkts wurde Sherlock auf einen Teich aufmerksam. Ein Mann mit grellbunter Weste und einem Zylinder auf dem Kopf warf eine Ente hinein. Die Beine des Tieres waren mit einem dünnen Stück Schnur verknüpft, an dem ein Gewicht hing, das es auf dem Wasser festhielt. Der Teich war von Hunden umlagert. Knurrend und geifernd zerrten sie an ihren Leinen aus Hanf oder Leder. Sherlock beobachtete, wie überall in der Menge Geld gewechselt wurde. Ihn beschlich ein mulmiges Gefühl, glaubte er doch zu wissen, was gleich passieren würde. Der Mann in der Weste trat zurück und hob die Hand. Erwartungsvolle Stille senkte sich über die Menge. Die Hunde verdoppelten ihre Anstrengungen, um sich loszureißen, und ihr Geknurre war jetzt so laut, dass es den Boden zum Vibrieren brachte. Die Hand des Mannes fiel auf die Weste hinab, und die Hunde wurden von ihren Besitzern von der Leine gelassen. Wie eine einzige Wand aus fletschenden Zähnen und wirbelnden Läufen stürzten sie sich in den Teich, um den quakenden Vogel zu packen. Während das Wasser nur so in alle Richtungen spritzte, flatterte die Ente auf der Flucht vor ihren Jägern voller Panik auf dem Wasser vor und zurück, so weit dies die Schnur und das Gewicht eben zuließen. Was die Hunde anbelangte, so vermieden sie es, sich zu tief ins Wasser zu begeben. Mit Ausnahme eines mutigen Terriers, der wie wahnsinnig hinter der Ente auf dem Teich herpaddelte. Sherlock wandte sich ab, bevor einer der Hunde die Zähne in den Hals der Ente graben konnte. Der Ausgang dieses unappetitlichen Spektakels stand von vornherein fest, die einzige offene Frage war nur, welcher Hundebesitzer am Ende den Preis gewinnen würde.
Angewidert ging Sherlock weiter.
Er kam an Ständen mit heißen Würstchen, kandierten Liebesäpfeln am Stiel, Orangen-Biscuits, Blätterteiggebäck und gesalzener, knusprig gerösteter Schweineschwarte vorbei. Er war sich nicht sicher, ob es sich bei dem flauen Gefühl in seinem Magen um Hunger oder Nervosität handelte. Oder beides.
Die Menge wurde nun dichter, und damit wurde es zunehmend ungemütlicher. Sherlock wurde von hinten geschoben und gestoßen, während die Leute um ihn herum johlten und knurrten. Eine Stimme erhob sich über ihnen und rief: »Wer wird den ungeschlagenen Champion herausfordern? Wer hat den Mut, sich Nat Wilson entgegenzustellen, dem Wunderkämpfer aus Kensal Green? Einen Sovereign, wenn Sie gewinnen, nichts als Hohn und Spott, wenn Sie verlieren!« Sherlock stolperte und landete auf einem Knie. Er wollte sich wieder aufrappeln, wurde jedoch zur Seite gestoßen. Dann traf ihn etwas hart im Rücken. Er drehte sich um und stellte verblüfft fest, dass er plötzlich vorne vor der Menge stand. Das Ding, über das er gestolpert war, war ein Holzpfosten, der zusammen mit drei weiteren Pflöcken die Ecken eines Quadrats markierte. Zwischen den Pfosten waren Seile gespannt worden. In der Mitte der Arena stand ein Mann, der nichts weiter als eine Lederkniehose trug und sich gestenreich vor der Menge in Pose warf. Brustkorb und Arme waren mit gewaltigen Muskelpaketen bepackt. Ein anderer Mann, der einen staubigen Anzug trug und eine Melone auf dem Kopf hatte, starrte Sherlock geradewegs an.
»Wir haben einen Herausforderer!«, schrie er. Die Menge applaudierte.
Sherlock versuchte, sich zu verdrücken. Aber die Leute hinter ihm schoben ihn nach vorne. Hände zogen die Seile auseinander, um eine Lücke zu bilden, und ehe er es sich versah, wurde Sherlock auf das grasbewachsene Areal geschoben.
»Nein!«, rief er, als er erkannte, dass er irgendwie zum Herausforderer geworden war. »Ich habe mich nicht …«
Der Ausrufer schnitt ihm das Wort ab. »Standard Broughton-Regeln«, verkündete er in einem seltsam gedehnten Sprechsingsang. »Keine Handschuhe, keine Schlagringe. Alles ist erlaubt. Außer einen Mann zu schlagen, wenn er zu Boden gegangen ist. Geht jemand zu Boden, hat er dreißig Sekunden Zeit sich zu erholen und acht weitere Sekunden, um wieder die Position an der Ausgangslinie einzunehmen. Der Kampf ist zu Ende, wenn einer nicht mehr aufstehen kann.« Er musterte Sherlock, der hektisch um sich blickte, im verzweifelten Versuch, eine Lücke in der Menge zu finden, durch die er vielleicht noch entkommen könnte. »Junge«, murmelte er, »ohne Hilfe gebe ich dir nicht mehr als eine Minute. Hältst du fünf durch, verdoppel ich den Preis. Muss ja die Zocker bei Laune halten.«
»Ich sollte gar nicht hier sein!«, protestierte Sherlock.
»Dafür ist es jetzt ein bisschen spät«, erwiderte der Ausrufer.
»Aber das Ganze ist ein Versehen!«
»Nein.« Der Mann lächelte und entblößte seine schwarzen verrotteten Zähne. »Es ist ein Massaker.«
Der Ausrufer steuerte auf den Ringrand zu, wo die Leute die Seile für ihn auseinanderhielten. Sherlock versuchte, ihm zu folgen, aber die Seile schnellten wieder an ihren Platz zurück, und die Männer, Frauen und Kinder johlten spöttisch, als er sich näherte. Steine wurden nach ihm geworfen, so dass Sherlock sich gezwungen sah, in die Ringmitte zurückzuweichen.
Der andere Kämpfer blickte grimmig entschlossen mal hier mal dort in die Menge und kam Applaus heischend zu ihm hinüberstolziert. Er war mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Sherlock und hatte ein viel breiteres Kreuz.
Seine Hände sahen aus wie zwei riesige, mit Walnüssen gefüllte Lederbeutel. »An die Linie«, grunzte er.
»Was?«
Der Kämpfer zeigte auf zwei parallele Linien, die man ins Gras gestampft hatte und etwa einen Meter voneinander entfernt waren. »Du stehst hinter der einen, ich steh hinter der anderen. Wenn der Gong ertönt, kämpfen wir. So funktioniert das.«
»Ich will nicht kämpfen«, protestierte Sherlock.
»Is’ deine Entscheidung, Junge«, knurrte der Kämpfer. »Hab trotzdem dafür zu sorgen, dass das Ganze fünf Minuten dauert, und deine Birne wird wie Hackfleisch aussehen, wenn de dich nicht verteidigst.« Kritisch beäugte er Sherlock. »Wird vermutlich sowieso so aussehen, selbst wenn de das tust«, fügte er hinzu. Er schob Sherlock auf die nächste Linie im Gras zu. »Nimm die Hände hoch, schütz dein Gesicht. Und bleib aufrecht stehen. Wenn de fällst, tret ich dich, bis du wieder stehst.«
»Ich dachte, der Schiedsrichter hat gesagt, dass man den Gegner nicht schlagen darf, wenn er am Boden liegt.«
Der Kämpfer zuckte die Achseln. »Aber von Treten hat er nix gesagt.«
Ungläubig ging Sherlock zu seiner Linie. Mit seinen gestiefelten Füßen stand der Kämpfer an der anderen Linie. Sherlock sah sich um und hielt nach jemandem Ausschau, der ihm helfen könnte. Nach irgendjemandem. Aber er blickte nur in rote, verschwitzte und vor Aggressivität verzerrte Gesichter.
Ein Gong ertönte.
Sherlock trat erst einmal zurück, doch im gleichen Augenblick sauste auch schon die Faust seines Gegners knapp an seiner Nase vorbei.
Er riss die Hände hoch, um sich zu verteidigen, und wich noch weiter zurück, als sein Gegner auf ihn zukam. Die Menge brüllte. Er hatte Bilder von Boxern in Büchern gesehen. Außerdem hatte er sich ein paar Kämpfe in der Deepdene-Schule angeschaut und sogar selbst ein wenig geboxt. Also nahm er die Stellung ein, an die er sich erinnerte, und hielt die zu Fäusten geballten Hände vor seinen Körper. Aber ganz offensichtlich hatte sein Gegner nicht die gleichen Bücher gelesen. Denn der kam einfach auf Sherlock zugetrottet und holte mit beiden Armen seitlich aus, um sie dann in Schulterhöhe mit geballten Fäusten auf Sherlock niedersausen zu lassen. Sherlock kassierte einen Treffer an der linken Schulter – derjenigen, die jüngst erst von Clem malträtiert worden war –, und augenblicklich schoss ihm der Schmerz wie flüssiges Metall den Arm hinab. Seine Hand fiel nutzlos zur Seite herunter. Wie hatte das alles nur passieren können? Noch vor einer Minute war er ein anonymer Zuschauer in der Menge gewesen, und nun stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit! Es war fast so, als hätte etwas, nein jemand, die Menge so gelenkt, dass er in diese Situation geraten war.