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»Warum warst du im Lagerhaus?«, beharrte die Stimme auf Antwort.

Sherlock führte die Hand an die brennende Wange. Dann nahm er sie wieder zurück und betrachtete sie. Die Linien seiner Handfläche waren blutverschmiert.

»Sie haben mich verletzt«, stieß er hervor und konnte immer noch nicht ganz fassen, was eben passiert war.

Wieder kam die Peitschenschnur aus der Dunkelheit geschossen. Dieses Mal erhaschte er einen kurzen Blick auf eine metallisch glänzende Verdickung an der Spitze, als sie an seinem Gesicht vorbeipfiff. Offensichtlich war die Peitsche mit einer scharfen Metallspitze versehen. Der Knall, der ertönte, als Metallspitze und Peitschenschnur ihr Ziel fanden und augenblicklich wieder zurückschnellten, fiel zusammen mit dem grellen Schmerz, der seinen Kopf durchfuhr. Die Peitsche hatte sich durch den oberen Teil seines rechten Ohres geschnitten. Er schrie auf und riss die Hand ans Ohr. Dieses Mal spürte er, wie sich augenblicklich Blut in der Handfläche sammelte und am Handgelenk hinabtropfte.

»Warum …«

»Ich bin einem Mann gefolgt, der aus einem Haus in Farnham kam!«, brüllte Sherlock. »Er ist zum Lagerhaus gegangen.«

Die Stimme schwieg einen Moment lang. Offensichtlich dachte sein Gegenüber nach. Dann: »Warum bist du dem Mann gefolgt?«

Ein warmes, feuchtes Gefühl auf der Haut verriet Sherlock, dass das aus dem Ohr strömende Blut ihm nun bereits den Hals hinablief, und seine gesamte rechte Gesichtsseite hatte sich mittlerweile in ein einziges unerträgliches Pochen verwandelt. »In dem Haus ist jemand umgekommen. Und ich wollte rauskriegen, wie.«

»Sie sind doch an der Pest gestorben, oder?«, flüsterte die Stimme. »Das ist es doch, was die Leute sagen.«

Sherlock biss sich auf die Zunge, damit ihm nicht irgendetwas über die Bienenstiche herausrutschte. Aber die Peitsche kam wieder aus der Dunkelheit hervorgeschossen und diesmal fraß sie sich oberhalb seines linken Auges in die Stirnhaut. Sein Kopf wurde gegen die Stuhllehne zurückgeworfen, und Wellen von brennendem Schmerz wirbelten in seinem Schädel. Er versuchte, sein Auge zu öffnen. Doch er stellte fest, dass es wie zugeklebt war – vor lauter Blut, das aus dem offenen Schnitt an der Stirn herabfloss.

Wenn er so weitermachte, würde sein Kopf bald zerfetzt sein.

»Er ist an Bienenstichen gestorben!«, schrie er. »Hunderten von Bienenstichen.«

Stille. Die Schmerzen von den drei Peitschenhieben hatten sich zu einem einzigen, glühendheißen Schmerzinferno vereinigt, das im raschen Takt seines Herzschlags pochte.

»Wer weiß noch von den Bienen?«

»Nur ich!«, log er.

Erneut kam die Peitsche wie eine zustoßende Schlange aus der Dunkelheit geschnellt. Diesmal wurde er knapp neben dem rechten Auge getroffen. Nur eine Haaresbreite weiter links und die Peitschenschnur hätte sich in die weiche Masse seines Augapfels gefressen. Blut spritzte auf seine Wimpern und schwarze Pünktchen tauchten in seinem Sichtfeld auf.

»Wenn mein Peitschenmeister das nächste Mal zuschlägt, wird es dich das linke Auge kosten«, sagte die Stimme. »Anschließend trennt er dir das rechte Ohr ab. Antworte ausführlich auf meine Fragen und lüge mich nicht an.«

Mein Peitschenmeister?, dachte Sherlock. Wer immer auch die Fragen stellte und die Peitsche schwang, es mussten zwei verschiedene Personen sein. Wie viele mochten sich noch dort in der Dunkelheit verbergen und ihn beobachten?

»Ich kenne bereits einige der Antworten auf die Fragen, die ich dir stelle«, fuhr die Flüsterstimme fort, »und wenn deine Antworten anders ausfallen, wirst du leiden. Jetzt und für den Rest deines Lebens. Also, wer weiß noch von den Bienen?«

»Professor Winchcombe in Guildford … und Amyus Crowe in Farnham.« Vor Anstrengung, die Schmerzen unter Kontrolle zu halten, zitterte seine Stimme. »Außerdem mein Onkel Sherrinford. Und Amyus Crowe hat dem Arzt im Ort davon berichtet. Wem er noch davon erzählt hat, weiß ich nicht.« Matty Arnatts Namen ließ Sherlock bewusst außen vor, in der Hoffnung, dass der Mann im Dunkeln nichts von Matty wusste oder ihn als unwichtig einschätzte.

»Zu viele«, sagte die Stimme. Sherlock hatte den Eindruck, dass die Stimme eher zu sich selbst als zu ihm sprach. Oder vielleicht auch zu jemand anderem. Jemandem, der bisher stumm geblieben war. »Wir müssen die ganze Operation beschleunigen.« Pause. Es schien, als würde der Mann nachdenken. Dann: »Schaff den Jungen weg und bring ihn um. Lass es wie einen Unfall aussehen. Überfahr ihn mit der Pferdekutsche. Sorg dafür, dass ihm die Räder das Genick brechen.«

Unversehens hatte Sherlock das schreckliche Bild des toten Dachses vor Augen. Den, den er vor dem Lagerschuppen gesehen hatte und dessen Leib von einer vorbeifahrenden Kutsche plattgewalzt worden war. Und jetzt würde das Gleiche mit ihm geschehen.

Hände packten ihn an den Schultern und zerrten ihn vom Stuhl empor. Die beiden Diener hatten die ganze Zeit hinter ihm gestanden und nun stießen sie ihn vor sich her. Stolpernd ging er auf die Tür zu. Ein ganzes Kaleidoskop von möglichen Fluchtideen schoss ihm durch den Kopf. Aber bei sämtlichen Varianten bestand das primäre Problem zunächst einmal darin, dass er diesen eisern zupackenden und stoßenden Händen entrinnen musste. Dann ließ einer der beiden Diener Sherlocks Schulter frei, um die Tür aufzumachen. Als diese nach außen aufschwang, standen alle drei schlagartig in hellem Licht. Sherlock drehte sich um, holte mit dem Fuß aus und trat zu, in der Hoffnung, den anderen Diener so hart zu treffen, dass er Sherlock losließ. Aber leider streifte sein Schuh lediglich einen Lederstiefel. Eine Faust kam aus dem Nichts auf ihn zugeschossen, traf ihn seitlich am Kopf und Sherlock sah ganze Galaxien wirbelnder Sterne vor sich.

Die Tür zum dunklen Raum schloss sich hinter ihnen … und gab den Blick auf Matty Arnatt frei, der eine mit Stacheln übersäte Eisenkeule in der Hand hielt. Das Gerät sah aus wie etwas, das ein Ritter in alten Zeiten auf dem Schlachtfeld benutzt haben mochte.

Matty ließ sie auf den Kopf des nächst stehenden Dieners niedersausen, und der Mann ging mit der Grazie eines Kohlensacks zu Boden, den man achtlos vom Karren geschmissen hatte.

Der andere Diener ließ Sherlock los, machte mit grimmiger Miene einen Schritt auf Matty zu und langte mit seiner fleischigen Hand nach Mattys Kopf. Doch Sherlock trat um ihn herum und versetzte ihm einen harten Schlag in die Leistengegend. Heftig nach Luft schnappend, sackte der Mann zusammen.

»Hier lang«, zischte Matty und bedeutete Sherlock ihm zu folgen.

Die beiden stürmten durch die mit dunklem Eichenholz verkleideten Korridore des unbekannten Hauses, vorbei an etlichen Samtvorhängen und weißen Alabasterstatuen bestürzend nackter griechischer Nymphen.

»Wo hast du die Keule her«, schrie Sherlock im Laufen. Irgendwo hinter sich konnte er den Lärm ihrer Verfolger hören.

»Hier im Haus stehen überall Ritterrüstungen und so’n Zeugs rum«, rief Matty über die Schulter zurück. »Hab sie mir einfach geschnappt.«

»Und was machst du hier?«

»War auf dem Jahrmarkt. Hab mitgekriegt, wie du in den Kampf verwickelt worden bist. Ich bin hin, um dir zu helfen, aber du bist von zwei riesigen Kerlen fortgeschleppt worden. Sie haben dich auf einen Karren geschmissen und dann hierhergebracht. Ich hab mich hinten an den Karren geklammert, wo sie mich nicht sehen konnten. Als sie dann hier zum Haus abgebogen sind, bin ich abgesprungen. Und seitdem hab ich nach dir gesucht.«

»Danke«, keuchte Sherlock. »Aber wo sind wir?«

»So an die drei Meilen von Farnham entfernt. Auf der entgegengesetzten Seite von Holmes Manor.« Matty rannte zu einer unscheinbaren Tür voraus, durch die sie in einen Bereich des Hauses gelangten, der vermutlich den Dienstboten vorbehalten war. Von da an ging es auf einem Korridor mit Wänden aus nackten Ziegelsteinen weiter, bis sie zu einer Tür kamen, durch die es hinaus in den Garten ging. Sie stürzten nach draußen, liefen hinaus in die angenehm frische Luft und den hellen Sonnenschein.