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Aber nun sag doch mal … Wenn es dort sechs Löcher gibt und jedes davon entweder geöffnet oder geschlossen werden kann, wie viele verschiedene Kombinationen gibt es dann, um Buchstaben, Nummern oder Symbole darzustellen?«

Sherlock unterdrückte das spontane Verlangen, seinem Bruder zu sagen, dass die Schule vorbei sei, und schloss stattdessen die Augen, um einen Moment lang nachzurechnen. Ein Loch konnte zwei Zustände aufweisen: offen oder geschlossen. Zwei Löcher konnten vier Zustände haben: offen-offen, offen-geschlossen, geschlossen-offen, geschlossen-geschlossen. Drei Löcher hingegen … Er ging schnell die Kombinationen im Kopf durch, bis sich ein Muster abzuzeichnen begann. »Sechsundvierzig«, sagte er schließlich.

»Gut gemacht«, nickte Mycroft. »Ich bin froh, dass du zumindest in Mathematik auf Zack bist.« Er schaute nach rechts aus dem Fenster. »Ah, Aldershot. Interessanter Ort. Ist vor vierzehn Jahren von Königin Victoria zur Hauptausbildungsgarnison der britischen Armee ernannt worden. Davor war es eine kleine Ortschaft mit nicht mal tausend Einwohnern. Jetzt liegt die Bevölkerungszahl bei sechzehntausend und sie wächst weiter.«

Sherlock reckte den Hals, um über seinen Bruder hinweg durch das andere Fenster zu sehen. Aber von seinem Blickwinkel aus konnte er nur eine lockere Ansammlung von verstreuten Häusern erkennen und etwas, bei dem es sich um eine Bahnlinie handeln mochte, die parallel zur Straße unten am Fuß des Abhangs verlief. Er setzte sich wieder auf seinen Platz, schloss die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, was ihn erwartete.

Nach einer Weile spürte er, wie die Kutsche bergab fuhr, und kurz darauf bogen sie diverse Male ab. Das klappernde Geräusch, das die Pferdehufe auf den Pflastersteinen machten, wich dumpfen Tritten, als sie plötzlich auf hartgestampfter Erde weiterfuhren.

Er kniff die Augen noch fester zu, in der irrationalen Hoffnung, so den Moment hinauszuzögern, an dem er akzeptieren musste, was passiert war.

Die Kutsche hielt auf Kiesgrund. Vogelgezwitscher und der Klang des Windes, der durch die Baumkronen wehte, erfüllten die Kutsche. Sherlock konnte Schritte hören, die sich knirschend näherten.

»Sherlock«, sagte Mycroft sanft. »Zeit, sich der Realität zu stellen.«

Er öffnete die Augen.

Die Kutsche hatte vor dem Eingang eines riesigen Hauses gehalten. Vor ihnen ragte ein zweistöckiges Gebäude aus rotem Backstein in die Höhe, und den schmalen Fenstern nach zu schließen, die die Fläche der grauen Dachziegel durchbrachen, musste es darüber hinaus auch im Dachgeschoss noch eine ganze Reihe von Räumen geben.

Ein Diener war im Begriff, Mycroft die Tür zu öffnen. Sherlock glitt hinüber und folgte seinem Bruder nach draußen.

Oben auf den drei breiten Steinstufen, die zum Säulenvorbau am Haupteingang hinaufführten, stand eine ganz in Schwarz gekleidete Frau im tiefen Schatten. Ihr hageres Gesicht wirkte verhärmt. Mit ihren gespitzten Lippen und den zusammengekniffenen Augen sah sie aus, als hätte jemand ihren Morgentee mit Essig vertauscht. »Willkommen auf Holmes Manor. Ich bin MrsEglantine«, sagte sie mit trocken-spröder Stimme. »Ich bin hier die Hauswirtschafterin.« Sie fixierte Mycroft. »MrHolmes erwartet Sie in der Bibliothek, wann immer Sie bereit sind.« Darauf glitt ihr Blick zu Sherlock. »Und der Diener wird Ihr … Gepäck … auf Ihr Zimmer bringen, Master Holmes. Der Nachmittagstee wird um drei Uhr serviert. Bitte seien Sie so gut und bleiben Sie bis dahin auf Ihrem Zimmer.«

»Ich werde nicht zum Tee bleiben«, erklärte Mycroft ruhig. »Ich muss leider nach London zurück.« Er wandte sich Sherlock zu, und in seinen Augen spiegelten sich teils Mitleid, teils brüderliche Liebe, doch war auch eine stumme Warnung in ihnen zu lesen. »Pass auf dich auf, Sherlock«, sagte er. »Ich komme natürlich am Ende der Ferien zurück, um dich wieder zur Schule zu bringen. Und wenn ich kann, besuche ich dich in der Zwischenzeit. Sei brav, und nutz die Gelegenheit, die Gegend hier kennenzulernen. Soweit ich gehört habe, besitzt Onkel Sherrinford eine außergewöhnliche Bibliothek. Frag ihn, ob du dir das geballte Wissen, das sie birgt, zu Nutze machen darfst. Ich werde meine Kontaktdaten bei MrsEglantine hinterlassen. Wenn du mich brauchst, schick mir ein Telegramm oder schreib mir einen Brief.« Er streckte seine Hand aus und legte sie tröstend auf Sherlocks Schulter.

»Das sind gute Menschen«, sagte er so leise, dass MrsEglantine es nicht hören konnte. »Aber wie alle in der Holmesfamilie haben sie ihre Macken. Sei dir im Klaren darüber und verärgere sie nicht. Schreib mir, wenn du Zeit hast. Und denk daran: Das ist nicht das Ende deines Lebens. Es ist nur für ein paar Monate. Sei tapfer.« Er drückte Sherlocks Schulter.

Sherlock fühlte einen dicken Kloß der Verärgerung und Frustration in seinem Hals aufsteigen und würgte ihn herunter. Er wollte nicht, dass Mycroft ihm etwas anmerkte, und er wollte nicht, dass seine Zeit auf Holmes Manor mit einem bösen Start begann. Wie auch immer er sich in den nächsten paar Minuten verhalten würde, es würde die Atmosphäre seines weiteren Aufenthaltes bestimmen.

Er streckte die Hand aus. Mycroft nahm die Hand von Sherlocks Schulter und ergriff sie mit einem freundlichen Lächeln.

»Auf Wiedersehen«, sagte Sherlock so beherrscht, wie er nur konnte. »Liebe Grüße an Mutter. Und an Charlotte. Und wenn du etwas von Vater hörst, lass es mich wissen.«

Mycroft drehte sich um und ging die Stufen zum Eingang empor. MrsEglantine bedachte Sherlock einen Augenblick lang mit ausdruckslosem Blick. Dann wandte sie sich ab und führte Mycroft ins Haus.

Sherlock blickte zurück und sah, wie der Diener sich abmühte, den Koffer auf die Schultern zu wuchten. Dann stolperte er an Sherlock vorbei die Stufen hoch, und Sherlock folgte ihm niedergeschlagen.

Der Boden der Eingangshalle war schwarz und weiß gefliest. Von den oberen Stockwerken schwang sich eine mit Verzierungen überladene Marmortreppe herab, die an einen gefrorenen Wasserfall erinnerte, und an den mit Mahagoni verkleideten Wänden hingen zahlreiche Bilder mit religiösen Szenen, Landschaften und Tieren. Mycroft ging gerade durch eine Tür links von der Treppe, und Sherlock konnte einen flüchtigen Blick in den Raum hineinwerfen. Reihen von in grünem Leder gebundenen Büchern säumten die Wände. Ein dünner, älterer Mann in einem altmodischen schwarzen Anzug erhob sich von einem Stuhl, dessen Polster im Farbton perfekt zur Farbe der Bücher passte. Sein bärtiges Gesicht war faltig und blass, die Kopfhaut mit Leberflecken gesprenkelt.

Die Tür schloss sich, als sie sich die Hände schüttelten. Den Koffer auf den Schultern balancierend, ging der Diener über den gefliesten Boden und steuerte auf die Treppe zu. Sherlock folgte ihm.

MrsEglantine stand auf der untersten Treppenstufe und blickte über Sherlocks Kopf hinweg auf die geschlossene Tür der Bibliothek.

»Sei dir darüber im Klaren, Kind, dass du hier nicht willkommen bist«, zischte sie, als er an ihr vorbeiging.

2

Sherlock hatte sich ein stilles Plätzchen im Wald außerhalb von Farnham gesucht. Von dort aus konnte er sehen, wie das Gelände vor ihm zu einem Pfad abfiel, der sich wie ein trockenes Flussbett durch das Unterholz schlängelte, bis er außer Sicht verschwand. Drüben auf der anderen Seite der Stadt lugte, an den Hang eines Hügels geschmiegt, eine kleine Burg zwischen den Bäumen hervor. Außer Sherlock war niemand da. Er hatte schon so lange einfach nur still dagesessen, dass sich sogar die Tiere an ihn gewöhnt hatten. Hin und wieder raschelte es im hohen Gras, wenn eine Maus vorbeihuschte, und über ihm am blauen Himmel zogen Habichte träge ihre Kreise. Geduldig warteten sie darauf, dass irgendein kleines Tier dumm genug war, sich auf freies Feld zu begeben.