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Innerhalb von Sekunden galoppierte er durch den Salon auf die Veranda hinaus. Hinter ihm ertönte ein Mordsradau, als Mattys Pferd einige Möbelstücke zur Seite fegte und dann mit klappernden Hufen auf die mit Steinplatten ausgelegte Veranda galoppiert kam.

Vor sich, noch hinter dem Feld mit den Bienenstöcken, erblickte Sherlock ein kleineres Nebentor, durch das normalerweise wahrscheinlich Lebensmittel und andere Versorgungsgüter angeliefert wurden. Wie es aussah, war es unbewacht. In vollem Galopp ritt er darauf zu. Die Mähne seines Pferdes wehte ihm ins Gesicht, und der Wind rauschte in seinen Ohren. Wenige Augenblicke später preschte sein Pferd auch schon in eine der Zwischenreihen des geometrischen Musters, das die kastenförmigen Umrisse der Bienenstöcke bildeten. In vollem Tempo galoppierten sie in gerader Linie mitten durch das Bienenstockfeld hindurch. Wolken von Bienen stiegen hinter ihnen aus ihren Behausungen auf, aber die Pferde waren zu schnell für sie, und sie schwirrten nur verwirrt und ziellos umher.

Das Nebentor war verschlossen. Aber Sherlock brauchte nur einen Moment, um abzusteigen und den Riegel zurückzuschieben. Dann drehte er sich um und blickte über das Gelände zum Haus zurück, während Matty auch schon neben ihm Halt machte. Maskierte und bewaffnete Männer drängten sich auf der anderen Seite des Bienenstockfeldes. Offensichtlich wollten sie nicht riskieren, das Feld zu betreten.

Einer oder zwei von ihnen schlugen bereits mit den Händen in die Luft, als die wütenden Bienen sich auf die erstbesten Ziele stürzten, die sich ihnen boten.

»Hab ich mir doch gedacht, dass alles klappen wird«, sagte Matty. »Sollen wir bleiben und zugucken?«

»Lieber nicht«, erwiderte Sherlock.

11

Amyus Crowe widmete sich dem letzten Schnitt in Sherlocks Gesicht. Er säuberte die Wunde mit einem Waschlappen und einer scharf riechenden Flüssigkeit, die, egal auf welche Stelle sie traf, zum Gott Erbarmen brannte. Anschließend nahm er in einem Rattansessel Platz, der unter seinem Gewicht heftig knirschte. Er stieß sich mit den Füßen ab und balancierte mit dem Stuhl auf den beiden Hinterbeinen sachte vor und zurück. Die ganze Zeit über fixierte er Sherlock mit den Augen.

Neben Sherlock wand sich Matty unbehaglich auf seinem Platz. Wie ein Tier, das die Flucht ergreifen wollte, aber nicht wusste, in welcher Richtung die Luft rein war.

»Eine ganz schöne Geschichte«, murmelte Crowe.

In der Annahme, dass Crowes Worte nur dazu gedacht waren, die Stille zu unterbrechen, während er nachdachte, schwieg Sherlock weiter. Crowe schaukelte vor und zurück und fuhr die ganze Zeit fort, Sherlock anzustarren. »Ja, eine ganz schöne Geschichte«, wiederholte er nach einer Weile.

Crowes Augen musterten ihn so fest und unbeirrt, dass er wegsah und den Blick durch den Raum schweifen ließ. Amyus Crowes Cottage wirkte alles andere als aufgeräumt. Überall lagen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften herum, die anscheinend einfach dort abgelegt worden waren, wo es Crowe nach der Lektüre gerade in den Sinn gekommen war. Ein Stoß Briefe war mit einem Messer, das sich mitten durch die Blätter bohrte, an den hölzernen Kaminsims gepinnt. Daneben hing eine Uhr, der Sherlock entnahm, dass es auf zwei Uhr nachmittags zuging, und wiederum daneben war ein einzelner Pantoffel befestigt, aus dessen Öffnung eine Gruppe von Zigarren wie ausgestreckte Finger hervorlugten.

Eigentlich hätte man erwarten müssen, dass es hier dreckig und verwahrlost aussah, aber Sherlock konnte weder Staub noch Schmutz entdecken. Der Raum war sauber, wenn auch unaufgeräumt. Es schien einfach so zu sein, dass Crowe seine ganz eigenen Methoden hatte, Dinge aufzubewahren.

»Und was schließt du aus dem Ganzen?«, versuchte Crowe schließlich Sherlock aus der Reserve zu locken.

Sherlock zuckte die Achseln. Er mochte es nicht, wenn er zum Objekt von Crowes Aufmerksamkeit wurde. »Wenn ich das wüsste«, konterte er, »hätte ich nicht zu Ihnen kommen müssen.«

»Es wäre schön, wenn eine Person immer den entscheidenden Unterschied ausmachen würde«, erwiderte Crowe ohne eine Spur von Gereiztheit in der Stimme. »Aber in der komplizierten Welt, in der wir nun mal leben, brauchst du manchmal Freunde. Und manchmal eine Organisation, die dich unterstützt.«

»Sie meinen, wir sollten uns an die Polypen wenden?«, fragte Matty offensichtlich ziemlich nervös.

»Die Polizei?« Crowe schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass sie euch glauben würden. Und selbst wenn sie es täten, könnten sie nicht viel tun. Wer immer auch in diesem Haus da lebt, wird einfach alles abstreiten. Im Gegensatz zu euch haben diese Personen anscheinend Macht und Einfluss. Und ihr müsst zugeben, dass es von außen betrachtet eine ziemlich absurde Geschichte ist.«

»Glauben Sie uns denn?«, forderte Sherlock ihn heraus.

Crowe verzog überrascht das Gesicht. »Natürlich glaube ich euch«, antwortete er.

»Warum? Sie haben doch gesagt, dass es eine absurde Geschichte ist.«

Crowe lächelte. »Menschen machen bestimmte Dinge, wenn sie lügen«, erwiderte er. »Lügen ist Stress, weil du stets gleichzeitig zwei verschiedene Dinge auf Kommando abrufbereit in deinem Kopf parat haben musst: die Wahrheit, die du geheimhalten willst, und die Lüge, die du zu erzählen versuchst. Dieser Stress äußert sich auf ganz bestimmte Weise. Die Leute stellen keinen richtigen Augenkontakt her, sie reiben sich die Nase, beim Reden zögern sie oder stottern. Und sie gehen mehr ins Detail als nötig. Als ob es ihre Lügen glaubwürdiger machen würde, wenn sie sich daran erinnern können, welche Farbe die Tapete hatte oder ob die Leute einen Vollbart, einen Schnurrbart oder sonst etwas in der Art hatten. Du jedoch hast eure Geschichte geradlinig und schnörkellos erzählt, mir in die Augen geblickt und keine irrelevanten Details hinzugefügt. So weit ich es beurteilen kann, sagst du die Wahrheit – oder zumindest das, was du für die Wahrheit hältst.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Sherlock. »Hier geht etwas vor sich. Etwas, das mit Kleidung zu tun hat, die für die Armee produziert wird. Und mit Bienen. Und dem Lagerschuppen in Farnham. Und hinter dem Ganzen steckt der Mann in diesem großen Haus – der Baron, wie ich glaube –, aber ich weiß nicht, was er vorhat.«

»Dann müssen wir das eben herausfinden.« Amyus Crowe ließ den Stuhl wieder auf seinen vier Beinen ruhen und stand auf. »Wenn du nicht genug Fakten hast, um zu einer Schlussfolgerung zu kommen, musst du raus und dir mehr Fakten beschaffen. Lasst uns aufbrechen und ein paar Fragen stellen.«

Matty rutschte unbehaglich auf seinem Platz umher. »Muss los«, murmelte er.

»Komm mit uns, Junge«, sagte Crowe. »Du bist Teil dieses Abenteuers gewesen, und du hast es dir verdient zu erfahren, was da vor sich geht. Und außerdem scheint der junge Master Holmes hier dir zu vertrauen.« Er machte eine Pause.

»Auf dem Weg werde ich uns etwas zu essen besorgen, wenn dir das bei deiner Entscheidung hilft.«

»Bin dabei«, sagte Matty.

Crowe geleitete sie nach draußen. Auf der Wiese neben dem Cottage war Virginia gerade dabei, ihr Pferd Sandia zu striegeln, dem eine größere rotbraune Stute Gesellschaft leistete. Sherlock vermutete, dass es Crowes Pferd war. Die beiden Pferde, auf denen Matty und Sherlock von der Villa des Barons geflüchtet waren, grasten friedlich etwas weiter abseits.

Virginia sah auf, als sie sich näherten. Als Sherlock ihrem Blick begegnete, sah sie rasch wieder weg.

»Wir machen einen Spazierritt«, verkündete Crowe. »Du kommst auch mit, Ginny. Je mehr Leute wir haben, die Fragen stellen, desto größer ist die Chance, ein paar halbwegs vernünftige Antworten zu bekommen.«