»Ich hab keine Ahnung, um was für Fragen es geht«, protestierte Virginia.
»Du hast draußen vor der Tür gestanden und gelauscht«, sagte Crowe lächelnd. »Ich habe Sandia wiehern hören. Das macht er nur, wenn du in Sichtweite, aber nicht unmittelbar bei ihm bist. Und außerdem hab ich eine Bewegung mitbekommen, als etwas … oder jemand in der Nähe der Tür das Sonnenlicht blockiert hat.«
Virginia wurde rot, hielt aber trotzig dem Blick ihres Vaters stand. »Du hast mir immer beigebracht, dass ich günstige Gelegenheiten stets nutzen soll«, sagte sie.
»Allerdings. Die beste Methode etwas zu lernen ist das Zuhören.«
Crowe bestieg sein Pferd und Virginia machte es ihm nach. Lächelnd beobachtete sie, wie Sherlock und Matty sich auf ihre Pferde schwangen. Anerkennend nickte sie Sherlock zu. »Gar nicht mal so übel«, lobte sie.
Sie schlugen den umgekehrten Weg ein, auf dem Sherlock und Matty zum Cottage gelangt waren, und trabten gemeinsam auf der Straße entlang. Die Sonne schien, und der Geruch von brennendem Holz lag in der Luft. Sherlock musste sich überaus Mühe geben, um sich richtig klarzumachen, dass man ihn gerade erst k.o. geschlagen, gefangengenommen, verhört und schließlich ganz nebenbei zum Tode verurteilt hatte. Solche Dinge passierten doch nicht einfach so, oder? Doch nicht an einem so schönen sonnigen Tag? Selbst die Schnitte in seinem Gesicht hatten aufgehört zu schmerzen.
Virginia lenkte ihr Pferd dichter an Sherlocks heran. »Du reitest gut«, begann sie. »Jedenfalls für einen Anfänger.«
»Ich hatte eine gute Anleitung«, antwortete er. Er warf ihr einen Blick zu, sah dann aber rasch wieder weg.
»Das, was du da bei uns im Cottage eben erzählt hast … Stimmt das alles?«
»Jedes Wort.«
»Dann ist dieses Land vielleicht doch nicht so öde, wie ich gedacht habe.«
Je mehr sie sich der großen Villa näherten, in der man Sherlock gefangen gehalten hatte, desto nervöser wurde er. In Sichtweite des zum Anwesen führenden Haupttores brachte Amyus Crowe schließlich mit einem Ruck an den Zügeln sein Pferd zum Stehen.
Weit und breit war niemand zu sehen.
»Ist das das Haus?«, rief Crowe.
Sherlock nickte.
»Hier sind frische Radfurchen. Sie kommen aus dem Tor und führen dann weiter auf die Straße«, fuhr Crowe fort. »Sieht mir ganz so aus, als hätten sie sich verkrümelt.«
Sherlock blickte verwirrt drein und Virginia lächelte. »Abgehauen«, erklärte sie. »Geflohen.«
»Oh, ach so.« Er prägte sich das für die Zukunft ein.
»Lasst uns der Straße folgen und sehen, was wir finden«, rief Crowe und trieb sein Pferd an. Virginia blieb dicht hinter ihm. Sherlock und Matty blickten sich kurz an und folgten dann.
Etwa fünf Minuten später gelangten sie zu einer Taverne – einem Gebäude aus roten, im typischen Diagonalstil der Region angebrachten Backsteinen, der Sherlock schon zuvor aufgefallen war, und weiß verputzten Flächen, die von schwarzen Holzträgern durchbrochen waren. Auf dem Rasen vor der Wirtschaft waren lange Tische und Bänke aufgestellt worden. Rauch quoll aus dem Schornstein. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg Sherlock in die Nase und augenblicklich verspürte er Hunger.
Crowe hielt an und stieg vom Pferd. »Wir nehmen ein spätes Mittagessen zu uns«, rief er. »Matty, Ginny, ihr beide bleibt draußen und passt auf die Pferde auf. Sherlock, du kommst mit mir.«
Sherlock folgte dem großen Amerikaner in die Taverne. Die niedrige Decke lag fast ganz in dickem, fettigem Rauch verborgen, der von einem Lamm aufstieg, das an einem Spieß über dem Kaminfeuer brutzelte. Frisches Sägemehl bedeckte den Boden. Vier Männer, die zusammen an einem Tisch saßen, beäugten die Neuankömmlinge argwöhnisch. Ein fünfter Mann saß auf einem Hocker am Tresen und befasste sich intensiv damit, in seinen Trinkkrug zu starren, anstatt ihnen Beachtung zu schenken. Der Gastwirt, der hinter dem Tresen stand und mit einem Tuch einen Krug polierte, nickte Amyus Crowe zu.
»Tag, die Herren. Soll’s was zu trinken, zu essen oder beides sein?«
»Vier Teller mit Brot und Fleisch«, antwortete Crowe, und Sherlock war verblüfft, ihn ohne den üblichen amerikanischen Akzent reden zu hören. Soweit Sherlock es beurteilen konnte, hörte sich seine Stimme an, als wäre er ein Farmer oder Arbeiter, der irgendwo aus der Nähe von London kam. »Und vier Krüge Bier.«
Der Gastwirt zapfte vier Krüge Bier und stellte sie auf ein Zinntablett. Crowe nahm eins für sich und nickte Sherlock zu. »Bring die nach draußen, Junge«, befahl er ihm mit seiner barschen »englischen« Stimme. Sherlock nahm das Tablett auf und trug es vorsichtig zur Tür. Crowe machte es sich auf einem Hocker am Tresen bequem, wie Sherlock aus den Augenwinkeln wahrnahm.
Als er nach draußen kam, stellte er fest, dass Matty einen Tisch und zwei Bänke in unmittelbarer Nähe der Taverne in Beschlag genommen hatte, während Virginia noch bei ihrem Pferd war. Er gesellte sich zu Matty und setzte sich so, dass er durch eines der Fenster in die Wirtsstube sehen konnte. Matty nahm einen der Krüge, packte ihn mit beiden Händen und fing gierig an zu trinken.
Sherlock nippte vorsichtig an der dunkelbraunen Flüssigkeit. Sie schmeckte bitter und schal und hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack im Mund.
»Hopfen ist nicht essbar, oder?«, sagte er zu Matty.
Der Junge zuckte die Achseln. »Die kannste schon essen, denk ich mal, aber das tut niemand. Schmecken nicht gerade gut.«
»Warum denkt dann um Himmels willen jeder, dass sich daraus ein Getränk machen lässt?«
»Keine Ahnung.«
Sherlock blickte durch das Fenster in die Taverne und konnte sehen, wie Amyus Crowe mit dem Wirt plauderte. Der Neigung seines Kopfes nach zu schließen, schien Crowe eine Reihe von Fragen zu stellen, auf die der Wirt bereitwillig antwortete, während er weiterhin Trinkkrüge mit einem stetig schmutziger werdenden Lappen polierte.
Aus der Taverne tauchte ein Mädchen mit Schürze auf, das ein Tablett mit vier Tellern voll dampfendem Fleisch trug. Sie kam zu ihnen herüber, platzierte wortlos die Teller samt Besteck auf dem Tisch und verschwand wieder.
Virginia kam zu ihnen herübergeschlendert, und Sherlock rückte ein wenig beiseite, um ihr Platz zu machen. Sie stocherte mit der Gabel in dem heißen Lammfleisch herum, spießte ein paar Fleischstückchen auf und führte die Gabel an den Mund. Doch plötzlich hielt sie inne. »Dir ist schon klar, dass ich diesen Brief nicht geschrieben habe, oder?«
»Jetzt weiß ich das.« Unfähig, ihr direkt in die Augen zu sehen, wandte Sherlock den Kopf zur Seite und blickte über die Felder. »Aber in dem Moment dachte ich, dass es deiner war. Vermutlich weil ich wollte, dass er es war. Hätte ich darüber nachgedacht, hätte mir klarwerden müssen, dass er nicht von dir stammen konnte.«
»Warum nicht?«
Er zuckte die Achseln. »Das Papier war fein und feminin, die Handschrift sehr akkurat. Es war, als ob jemand vorzutäuschen versuchte, ein Mädchen zu sein«, sagte er und ertappte sich prompt bei seinem Fauxpas. »Ich meine eine Frau. Eine junge Frau. Ich meine …«
»Ich weiß, was du meinst.« Sie lächelte leicht. »Und warum glaubst du, dass ich normalerweise kein feminines Schreibpapier benutze und über keine akkurate Handschrift verfüge?«
Dieses Mal brachte er es fertig, sie anzusehen, und einen langen Augenblick lang ruhten ihre Blicke aufeinander.
»Ich bin noch keinem englischen Mädchen begegnet, das so ist wie du«, sagte er schließlich. »Du bist einzigartig. Ich versuche immer noch, aus dir schlau zu werden. Aber ich glaube, wenn du wollen würdest, dass ich irgendwohin komme – zum Beispiel zum Jahrmarkt – würdest du einfach aufkreuzen und mich fragen.« Er hielt einen Moment inne und überlegte. »Oder wahrscheinlicher noch, es mir einfach sagen«, fügte er hinzu.
Dieses Mal war sie an der Reihe, rot zu werden. »Du denkst, ich bin zu herrisch?«