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»Nicht zu herrisch. Einfach nur ausreichend herrisch.«

Mattys Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. »Worüber sprecht ihr beide da überhaupt?«

»Ach, nichts«, antworteten Sherlock und Virginia im Chor.

Sherlock sah wieder durch das Fenster und stellte fest, dass Crowe sich zu den vier Männern gesellt hatte, die zusammen am Tisch saßen. Sie schienen alle gut miteinander zurechtzukommen. Crowe machte eine Geste in Richtung des Wirts, der sich daraufhin anschickte, weitere Krüge mit Bier zu füllen.

»Dein Vater ist ein interessanter Mann«, sagte Sherlock und wandte sich wieder Virginia zu.

»Er hat so seine guten Momente.«

»Was hat er eigentlich drüben in Amerika gemacht?«

Sie hielt ihren Blick auf den Teller gesenkt. »Willst du das wirklich wissen?«

»Ja.«

»Er war ein Fährtensucher.«

»Du meinst, er hat Tiere gejagt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Menschen. Er hat Killer verfolgt, die der Justiz entkommen sind. Und Indianer, die einsame Siedlungen überfallen haben. Er hat sie tage- und wochenlang durch die Wildnis verfolgt, bis er nah genug war, um sie zu überrumpeln.«

Sherlock konnte einfach nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. »Und was hat er … Ich meine, hat er sie dann der Justiz übergeben?«

»Nein«, erwiderte sie leise. Abrupt stand sie auf und ging wieder zurück zu den Pferden.

Sherlock und Matty saßen schweigend eine Weile da, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Schließlich kam Amyus Crowe aus der Taverne heraus. Er zwängte seinen großen Körper zwischen Bank und Tisch und setzte sich zu ihnen.

»Interessant«, sagte er, wieder ganz in sein »amerikanisches« Selbst zurückverwandelt.

»Was gibt’s Neues?«, fragte Sherlock. »Wissen die da drinnen etwas über die Villa?«

»Und wie haben Se die dazu gebracht, Ihre Fragen zu beantworten?«, fügte Matty hinzu. »Sie sind fremd hier und normalerweise sind die Leute Fremden gegenüber ziemlich verschlossen.«

»Dann ist es doch das Beste, einfach kein Fremder zu sein«, erwiderte Crowe. »Wenn du eine Weile bloß so dasitzt und dich mit dem Wirt unterhältst, wirst du sozusagen Teil der Einrichtung. Dann schaltest du dich in die Konversation ein, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet, und erzählst den Leuten was von dir: wer du bist, warum du da bist und so weiter. Hab ihnen erzählt, dass ich mich nach ’ner Farm umsehe, um Schweine zu züchten, mit der Begründung, dass die neuen Soldaten in Aldershot jede Menge Nahrung brauchen werden. Sie fragten, ob ich wissen würde, wie viele Soldaten dort einmal stationiert sein werden, und wir sind über die sich daraus ergebenden Geschäftsmöglichkeiten weiter ins Gespräch gekommen.

Ich hab gefragt, ob es hier in der Gegend irgendjemand gäbe, der Interesse daran haben könnte, in eine Unternehmung zu investieren, oder jemand, der vielleicht Land übrig hätte. Und daraufhin haben sie mir von dem Grundbesitz weiter unten an der Straße erzählt. Gehört einem Mann namens Maupertuis – offensichtlich irgend so eine Art von Baron und obendrein ein Ausländer.«

Sherlock sah zu Matty hinüber und lächelte. Crowe schien sich der Tatsache gar nicht bewusst zu sein, dass er in diesem Land selbst ein Ausländer war.

»Keiner hat diesen Baron Maupertuis jemals zu Gesicht bekommen, und sein Personal hat er mitgebracht. Er hat niemanden aus der Gegend eingestellt. Hat sich dadurch bei den Leuten hier nicht gerade sehr beliebt gemacht. Darüber hinaus hat er auch die Vorräte und alles, was sonst noch benötigt wurde, von woanders herkommen lassen. Hat nichts aus der Gegend hier gekauft. Wie dem auch sei, jedenfalls hat der Wirt unserer Unterhaltung zugehört und dann erzählt, dass der Baron vorhin ausgezogen ist. Wie es aussieht, ist ein Konvoi von Kutschfuhrwerken die Straße entlanggekommen. Alle voll beladen mit Kisten und Möbeln, und die Nachhut bildete eine schwarze, zweirädrige Kutsche. Eine Weile später kamen dann weitere Fuhrwerke. Diesmal mit riesigen Kisten beladen, die mit Tüchern verhüllt waren. Ich vermute, das waren die Bienenstöcke, von denen du erzählt hast, junger Mann. Wahrscheinlich haben sie die Bienen mit Rauch beruhigt und betäubt. So machen das jedenfalls richtige Imker, wenn sie ihre Bienenvölker woanders hintransportieren.«

»Sie haben die Bienenstöcke mitgenommen? Warum?«

Amyus Crowe nickte. »Das ist eine sehr gute Frage. Warum nimmt man all die Bienenkörbe mit, wenn man Hals über Kopf abhauen muss? Das behindert einen doch nur auf der Flucht, und es ist ja nicht so, dass man woanders keine Bienen bekommen kann.« Er versank eine Weile in Grübelei. »Sieht ganz so aus, als ob eure Flucht sie erschreckt hat. Sie konnten sich nicht auf das Risiko einlassen, dass ihr vielleicht zur Polizei geht und die dann bei ihnen aufkreuzt, um der Sache nachzugehen. Sie sind woanders hingezogen, und wir müssen rausfinden wohin.«

»Wir könnten ihnen einfach folgen«, schlug Sherlock vor.

Crowe schüttelte den Kopf. »Sie haben einen zu großen Vorsprung.«

»Sie können nur langsam vorankommen«, beharrte Sherlock. »Sie haben die Bienenstöcke dabei. Einer alleine könnte sie auf dem Pferd einholen.«

»Es gibt zu viele Straßen, die sie hätten nehmen können«, erwiderte Crowe.

»Eine lange Karawane von Fuhrwerken? Die Leute würden auf sie aufmerksam werden und sich an sie erinnern. Und sie werden sich nicht auf holprigen Landstraßen fortbewegen, sondern sich an die Hauptstraßen halten. Das schränkt die Möglichkeiten ein.«

Crowe grinste. »Gut überlegt, Junge.«

»Sie haben auch bereits daran gedacht?«, fragte Sherlock und runzelte die Stirn.

»Ja, hab ich. Aber ich wollte dir die Antworten nicht auf dem Silbertablett servieren. Ich war neugierig zu sehen, ob du in der Lage bist, ein Problem ganz allein zu durchdenken. Vor allem, wenn ich dich in die entgegengesetzte Richtung stoße.« Crowe erhob sich. »Ich kenne da ein paar Kerle in der Nähe unseres Cottages, die Pferde haben und gut ein paar Schillinge gebrauchen könnten. Ich werde sie losschicken, um nach dem Konvoi zu suchen. Ich schlage vor, du gehst zurück nach Holmes Manor und schließt Frieden mit deiner Familie. Sag ihnen, dass du die ganze Zeit bei mir warst. Das sollte sie beruhigen. Ich komme morgen vorbei und lass dich wissen, was ich rausgefunden habe.«

Gemeinsam ritten sie über Nebenstraßen und Feldwege, bis sie in die Nähe von Farnham kamen, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Matty machte sich zu seinem Boot auf, wo immer es sich gerade befinden mochte, während Crowe und Virginia auf den Pferden in Richtung Cottage verschwanden. Sherlock ließ sein Pferd einen Moment lang ruhig auf der Stelle stehen. Er musste die Ereignisse des zurückliegenden Tages erst einmal sacken lassen, damit sich das schwindelerregende Wirrwarr aus Sinneseindrücken zu verarbeitbaren Erinnerungen formte. Nach einer Weile fühlte er sich ruhiger und lenkte das Pferd nach Holmes Manor.

Dort angekommen, fragte er sich einen Augenblick lang, wo er das Pferd lassen sollte. Schließlich gehörte es ihm ja nicht. Andererseits schien sein vorheriger Besitzer es einfach zurückgelassen zu haben, und gegenüber dem quietschenden alten Hochrad, das Matty für ihn aufgetrieben hatte, stellte das Tier definitiv eine Verbesserung dar. Am Ende ließ er das Pferd einfach mit einem Ballen Heu im Stall zurück. Wenn es morgen noch dort wäre, würde er das als Zeichen dafür nehmen, dass er es behalten sollte.

Als er das Haus betrat, wurde gerade das Abendessen serviert. Jetzt galt es, sich normal zu benehmen. So als ob nichts passiert und die Welt noch exakt genauso wäre wie heute morgen. Er blickte an sich herab, klopfte sich die Jacke ab und betrat das Speisezimmer.

Das Abendessen war ein ziemlich surreales Erlebnis. Seine Tante plapperte mal wieder unaufhörlich und ausgiebig über nichts, während sein Onkel beim Essen in einem großen Buch las und dabei ab und zu etwas vor sich hinmurmelte. MrsEglantine stand wie gewöhnlich etwas abseits in Warteposition an der Wand und starrte ihn von dort aus an. Es war alles andere als einfach, die ruhige, zivilisierte Atmosphäre mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass er erst vor wenigen Stunden k.o. geschlagen, entführt, zum Tode verurteilt worden und in letzter Sekunde entkommen war.