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Trotz der Portion Fleisch, die er in der Taverne gegessen hatte, schien ihm der Magen in den Kniekehlen zu hängen. Hungrig füllte er sich den Teller mit dampfenden Hühnchenfleischstücken und Gemüse und goss über das Ganze dann Bratensoße.

»Du siehst aus, als wärst du im Krieg gewesen, Sherlock«, sagte seine Tante während des Desserts. Donnerwetter! Noch nie war sie bisher so nah dran gewesen, ihm eine direkte Frage zu stellen.

»Ich … bin gefallen«, antwortete er, im Bewusstsein der brennenden Schnitte auf seinem Gesicht und an den Ohren. »Ich hab noch nicht viel Übung mit dem Hochrad.«

Das schien sie zufriedenzustellen. Wieder in ihr Gemurmel versinkend, fuhr sie mit ihrer immerwährenden Konversation mit sich selbst fort.

Sobald es die Gesetze der Höflichkeit erlaubten, verließ Sherlock die Tafel und ging auf sein Zimmer. Eigentlich hatte er vorgehabt, ein wenig zu lesen und dann vielleicht einige der letzten Ereignisse in einem Tagebuch festzuhalten, solange sie noch frisch waren. Aber kaum hatte sein Körper das Bett berührt, schien es ihm auf einmal ganz unmöglich, noch länger die Augen offenzuhalten, und innerhalb von Sekunden war er – immer noch vollständig angezogen – eingeschlafen.

Nur einmal wachte er in der Nacht auf. Draußen war es schon dunkel, und irgendwo in der Ferne heulten ein paar Eulen. Er streifte die Kleidung ab und glitt unter das raue Bettlaken. Als würde er in einen tiefen und geheimnisvollen See eintauchen, versank er gleich darauf im Schlaf.

Der nächste Tag brach in strahlend hellem Sonnenschein an. Amyus Crowe stand unten in der Halle, als Sherlock zum Frühstück herunterkam. Sein Lehrer trug einen weißen Leinenanzug und einen Hut mit breiter Krempe.

»Wir fahren nach London«, rief er mit dröhnender Stimme, kaum dass er Sherlock erblickt hatte. »Ich habe Geschäfte zu erledigen, und dein Onkel hat mir die Erlaubnis gegeben, dich mitzunehmen. Wird eine schöne Bildungsreise werden. Wir sehen uns ein paar Kunstgalerien an, und ich erzähl dir etwas über die Geschichte, die mit dieser großartigen Stadt verknüpft ist.«

»Kommt Virginia auch mit?«, entfuhr es Sherlock und hätte sich schon im selben Augenblick dafür ohrfeigen können. Aber Crowe grinste nur und seine Augen leuchteten belustigt auf. »Aber ja«, sagte er. »Ich könnte sie doch jetzt wohl kaum alleine auf dem Lande lassen, oder? Was für ein Vater wäre ich denn da?«

»Warum London?«, fragte Sherlock mit leiserer Stimme, als er den Fuß der Treppe erreichte.

»Dorthin ist der Konvoi unterwegs gewesen«, erwiderte Crowe ebenfalls mit gedämpfter Stimme. »Ich vermute, dass der Baron dort noch ein anderes Haus besitzt.«

Mit kaum hörbarem Rascheln ihres Kleides trat MrsEglantine am anderen Ende der Halle aus dem Schatten hervor. »Sie sollten Ihr Frühstück einnehmen, junger Master Holmes, bevor ich den Tisch abräumen muss«, sagte sie und legte in ihre Stimme gerade so viel Missfallen, dass es zwar rauszuhören war, aber für Sherlock noch nicht beleidigend wirken konnte.

»Danke«, sagte Sherlock nur und wandte sich wieder Crowe zu. »Fahren wir jetzt sofort los?«

»Sieh zu, dass du noch was in den Bauch bekommst«, antwortete Crowe. »Du wirst es heute vielleicht brauchen. Und packe eine Tasche mit ausreichend Sachen für zwei Tage. Ich werde draußen in der Kutsche warten.« Er wandte sich MrsEglantine zu und zog mit extrem übertriebener Geste seinen Hut. »Ma’am«, sagte er.

So schnell er konnte, schlang Sherlock sein Frühstück hinunter, allerdings ohne besonders viel davon zu schmecken. Er würde nach London fahren! Und wenn er richtig Glück hatte, würde er während seines Aufenthaltes vielleicht Mycroft treffen!

Amyus Crowe wartete in einer vierrädrigen Kutsche vor dem Gebäude. Neben ihm saß Virginia. Sie sah alles andere als glücklich aus. Entweder wegen des Rüschenkleides und der Haube, die sie trug, oder weil sie eingepfercht in der Kutsche sitzen musste, anstatt draußen im Freien zu sein.

»Du siehst nett aus«, sagte Sherlock, als er ihr gegenüber Platz nahm und der Kutscher seine Tasche hinten bei dem anderen Gepäck verstaute.

Sie starrte ihn finster an.

Die Kutsche setzte sich in Bewegung, und die über den Kies ratternden Räder übertönten ihre Antwort. Aber Sherlock war sich sowieso nicht so sicher, ob er sie hören wollte.

Als sie zum Bahnhof von Farnham kamen, wartete Matty bereits auf sie. Amyus Crowe strahlte ihn an. »Dann hast du meine Nachricht also bekommen?«

»Bin von irgend so’m Kerl geweckt worden, der sie gebracht hat. Woher wussten Sie, wo mein Boot liegt?«

»Es ist mein Beruf zu wissen, wo sich alles befindet. Mein Beruf und auch mein Vergnügen. Hast du Lust auf eine Reise, Junge?«

»Hab keine Klamotten zum Wechseln, oder sonst was«, sagte Matty.

»Wir werden dir besorgen, was auch immer du brauchst, sobald wir in London sind. Jetzt lasst uns sehen, dass wir die Fahrkarten bekommen.«

Crowe kaufte vier Fahrkarten nach London für die Zweite Klasse und anschließend begab sich die kleine Gruppe auf den Bahnsteig hinab, während der Kutscher ihr Gepäck ablud. Crowe hatte alles perfekt geplant. Innerhalb von zehn Minuten traf der Zug ein: ein gewaltiges Monster von einer Maschine! Aus der riesigen röhrenförmigen Lok kam von irgendwoher unter lautem Zischen Dampf hervorgeschossen, die wuchtigen Kolben schwangen vor- und zurück wie bei einer Aufziehfigur, und die metallenen Räder, die fast so groß wie Sherlock waren, erzeugten auf den stählernen Schienen ein ohrenbetäubendes Kreischen.

»Eine von Joseph Beattie konstruierte Lokomotive der Saxon-Klasse«, bemerkte Amyus Crowe. »Allgemein als ›2-4-0‹ bezeichnet. Kannst du mir sagen, warum, Sherlock?«

»Warum Saxon-Klasse oder warum 2-4-0?«

Crowe nickte. »Richtig, das Sammeln von korrekten Informationen hängt in erster Linie von einer korrekten Fragestellung ab«, räumte er ein. »Ich meinte die 2-4-0-Bezeichnung. Ich denke, das mit der Saxon-Klasse ist nur Ausdruck eines historischen Faibles, das der Ingenieur hat. Eine andere Maschine, die er entwickelte, hat er zum Beispiel ›Nelson‹ genannt.«

Sherlock ließ den Blick über die Lokomotive gleiten. Ihm fiel auf, dass die Räder nicht in gleichmäßigen Abständen, sondern in Gruppen angebracht waren.

»Ich würde sagen, das hängt damit zusammen, wie die Räder angeordnet sind«, probierte er sein Glück. »Aber das kann eigentlich nicht sein.«

»Doch, so ist es tatsächlich«, erwiderte Crowe.

»Die zwei an der Frontachse gelagerten Vorderräder sind frei beweglich und lassen sich seitlich einschlagen, so dass die Lokomotive auch um Kurven fahren kann. Dann folgen vier weitere Räder auf zwei Achsen, die direkt mit der Dampfmaschine verbunden sind. Das sind die Antriebsräder.«

»Und die Null?«, fragte Sherlock.

»Einige Lokomotiven haben hinten noch ein zusätzliches Radpaar als Antrieb«, erwiderte Crowe. »Die Null zeigt an, dass diese Lok dieses dritte Paar nicht hat.«

»Also hat es eine Nummer verpasst bekommen, um anzuzeigen, dass es eigentlich keine Nummer braucht, weil etwas gar nicht da ist«, stellte Sherlock fest.

»Korrekt«, sagte Crowe lächelnd. »Es mag vielleicht nicht sinnvoll sein, aber es ist absolut logisch, wenn man einmal das System akzeptiert, für das sie sich entschieden haben.«

Sie fanden ein Abteil für sich allein und machten es sich für die Reise bequem. Auf Sherlock, der noch nie zuvor mit der Eisenbahn gefahren war, stürzten jede Menge neue Eindrücke ein: das Vibrieren der Sitze, Wände und Fenster, als sie so dahinfuhren, der merkwürdig süßlich riechende Rauch, der zu ihnen hineinwehte, die Art, wie die Landschaft an ihnen vorbeiflog, ständig sich verändernd und doch auf seltsame Weise immer gleichbleibend. Matty saß mit weit aufgerissenen Augen nervös auf seinem Platz. Sherlock vermutete, dass sein Freund bisher in seinem Leben noch nicht einmal mit dem mageren Luxus eines Zweite-Klasse-Abteils Bekanntschaft gemacht hatte.