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Wälder flogen vorbei und machten weiten Feldern Platz. Bei den Pflanzen, die dort wuchsen, handelte es sich weder um Mais noch um Weizen oder Gerste. Es waren braune, spindeldürre Gewächse mit kleinen grünen Blättern, die sich um etwa zwei Meter hohe Holzstangen rankten, die im Boden steckten. Sherlock wollte Crowe gerade fragen, um was es sich dabei handelte, als Matty, der Sherlocks Interesse bemerkt hatte, sich vorbeugte und einen Blick nach draußen warf.

»Hopfen«, sagte er lapidar. »Für die Brauereien. Die Gegend ist bekannt für das gute Bier, das hier gebraut wird. Allein in Farnham gibt es an die dreißig Pubs und Tavernen.«

Und so ging die Reise – lediglich unterbrochen von einem einmaligen Umsteigen in Guildford – weiter, bis sie Waterloo Station erreichten, den großen Endbahnhof in der geschäftigen Weltmetropole London.

Der Stadt, in der Mycroft Holmes lebte und arbeitete.

12

Waterloo Station war eine wimmelnde Masse von Menschen, die unter einem riesigen Dach aus Stahl und Glas in alle Richtungen davoneilten und alle möglichen Arten von Schachteln, Paketen, Koffern und Gepäckstücken mit sich schleppten. Die Wärme der Sonne wurde durch das Glas noch verstärkt, wodurch es im Bahnhof wärmer war als draußen auf den umliegenden Straßen. Züge schleppten sich schnaufend zu den ihnen bestimmten Bahnsteigen und spien jede Menge Dampfwolken und weitere Menschenmengen aus, die sich augenblicklich dem hitzigen Treiben hinzugesellten. Sherlock spürte, wie sich unter seinem Halskragen Schweiß zu sammeln begann.

Amyus Crowe heuerte sogleich einen Gepäckträger an und wies ihn an, ihre Taschen aus dem Zug zu holen. Der Träger geleitete sie nach draußen, wo eine Reihe von Droschken Reisende aufnahmen, die in einer langen Schlange warteten. Ein Halfpenny Extratrinkgeld bewegte den Träger dazu, sie an der Warteschlange vorbeizulotsen und dorthin zu führen, wo die gerade angekommenen Droschken ihre Fahrgäste herausließen, bevor sie sich in die Linie der wartenden Droschken einreihten. Ein kurzes Feilschen, und dann stiegen sie auch schon durch eine Tür in die Droschke, noch während die vorherigen Fahrgäste diese auf der anderen Seite verließen.

Amyus Crowe, der sich in London auszukennen schien, wies den Kutscher an, sie zum Sarbonnier Hotel zu fahren. Die Droschke setzte sich in Bewegung, noch während Sherlock und Matty sich jeweils auf ihrer Seite aus dem Fenster beugten, um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern.

Die Größe der Gebäude war beeindruckend, verglichen mit denen in Farnham, Guildford oder anderen Städten, die Sherlock vertraut waren. Einige von ihnen ragten fünf oder sogar sechs Stockwerke in die Höhe. Andere hatten wuchtige Säulen vor den Fronteingängen, um riesige Vorhallen abzustützen, und wiesen Reihen von Skulpturen an den Dachrändern auf. Soweit Sherlock es erkennen konnte, handelte es sich dabei in einigen Fällen um menschliche Figuren, in anderen um mythische Kreaturen mit Flügeln, Hörnern und Reißzähnen.

Nach kurzer Zeit fuhren sie über eine Brücke, die sich über einen breiten Fluss spannte.

»Die Themse?«, fragte Sherlock.

»So ist es«, bestätigte Crowe. »Einer der dreckigsten, verkehrsreichsten und übelsten Flüsse, die ich jemals das unangenehme Vergnügen gehabt habe kennenzulernen.«

Nachdem die Droschke auf der anderen Flussseite von der Brücke heruntergerattert und dann ein paarmal abgebogen war, hielt sie schließlich vor einem langgezogenen Gebäude aus orangefarbenem Stein. Der Kutscher sprang vom Bock herunter und half ihnen, das Gepäck abzuladen. Aus einer Drehtür an der Frontseite des Gebäudes tauchten drei Portiers auf, die ihnen die Taschen abnahmen.

Sie betraten die Hotellobby, die mit ihren weißen, an der Basis mit Skulpturen verzierten Säulen, dem prachtvollen Deckenmosaik und dem rosafarbenen Marmorfußboden einfach atemberaubend aussah. Amyus Crowe jedoch steuerte unbeeindruckt auf einen langen hölzernen Empfangstresen zu.

»Drei Zimmer für zwei Nächte«, sagte er zu dem uniformierten Mann hinter dem Tresen.

Der Mann nickte. »Natürlich, Sir«, antwortete er und drehte sich um, um drei Schlüssel von einem Brett an der Wand hinter sich zu nehmen. Als er sich wieder zu Crowe umwandte, fügte er noch hinzu: »Wenn Sie sich vielleicht die Mühe machen würden, hier im Gästebuch zu unterschreiben, Sir.«

Crowe unterschrieb mit schwungvoller Geste und der Portier händigte ihm die Schlüssel aus. Diese waren an großen Kugeln befestigt, wahrscheinlich – so vermutete Sherlock – damit man sie nicht so leicht verlieren konnte.

»Sherlock und Matthew, ihr teilt euch ein Zimmer«, verkündete Crowe und gab ihnen einen Schlüssel. »Ginny bekommt ein Zimmer für sich, und ich nehme das dritte. Eure Taschen werden auf eure Zimmer gebracht. Matthew, ich schlage vor, dass du und ich uns irgendwohin begeben, wo wir dir was zum Anziehen und ein paar Toilettensachen besorgen können.« Kritisch musterte er Matty. »Und einen Haarschnitt«, fügte er hinzu. »Sherlock, Virginia, wie wär’s, wenn ihr solange einen Spaziergang macht? Geht nach rechts und dann weiter bis ans Ende der Straße, und ihr werdet etwas finden, das euch interessieren könnte. Wir werden in einer Stunde zum Mittagessen wieder zurück sein. Wenn ihr euch verlauft, fragt jemanden, wie ihr zum Sarbonnier Hotel zurückkommt.«

Dem Rat Crowes folgend, führte Sherlock Virginia nach draußen und wandte sich dann nach rechts. Augenblicklich wurden sie von einem dichten Menschenstrom erfasst, der sie in die gewünschte Richtung mit sich fortzog.

Aus Sorge, dass sie getrennt werden könnten, streckte Sherlock seine Hand aus, um Virginia näher an sich heranzuwinken. Doch stattdessen schloss sich ihre Hand um die seine. Ganz warm und weich fühlte sie sich an, und plötzlich kam es Sherlock vor, als würde sein Herz doppelt so schnell schlagen. Erschrocken warf er ihr einen Blick zu, und Virginia bedachte ihn mit einem für sie untypischen schüchternen Lächeln.

Sie brauchten nur ein paar Minuten, bis sie das Ende des Häuserblocks erreicht hatten. Die Straße mündete plötzlich auf einen weiten offenen Platz, dessen Mitte von einer großen Säule beherrscht wurde, die sich aus einem kantigen Sockel erhob.

Einen Moment lang dachte Sherlock, dass dort oben auf der Spitze der Säule ein Mann stehen würde, und unwillkürlich hüpften seine Gedanken wieder zurück nach Holmes Manor zu seinem Onkel. Der hatte nämlich eines Abends beim Essen etwas über tiefreligiöse, asketisch lebende Eremiten erzählt, die ihr Leben und ihre Familien aufgaben, um auf der Spitze von Pfählen zu leben, wo sie über die Natur Gottes meditierten und nur das aßen, was ihnen von vorbeikommenden Leuten hochgeworfen wurde. Als er genauer hinsah, wurde ihm jedoch sofort klar, dass es sich bei der Gestalt auf der Säule nicht um einen Menschen, sondern um eine Statue handelte. Der Künstler hatte sie bei der Bearbeitung des Steines so gestaltet, dass es aussah, als würde sie eine Marineuniform tragen.

»Wer ist das?«, fragte Virginia gebannt.

»Admiral Nelson, glaube ich«, erwiderte Sherlock. »Womit dies hier der Trafalgar Square sein dürfte. Er wurde so genannt in Erinnerung an die berühmte Seeschlacht, die Nelson 1805 gewonnen hat.«

Zwei Wasserfontänen am Fuß der Säule zauberten einen feinen Sprühnebel in die Luft, der im hellen Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben funkelte. Hier war das Herz Londons, der Mittelpunkt eines Empires, das sich bis auf die andere Seite des Globus erstreckte.

Und irgendwo hier in der Nähe saß sein Bruder Mycroft vermutlich gerade an seinem Schreibtisch und trug dazu bei, es zu lenken.