Sie spazierten eine Weile auf dem Trafalgar Square umher, beobachteten die Leute und bestaunten die schönen Gebäude, die die umliegenden Straßen säumten. Dann machten sie sich wieder auf den Weg zurück ins Hotel. Sie trafen gerade rechtzeitig ein: Amyus Crowe stand im Foyer und erwartete sie. In seiner Begleitung befand sich ein Junge, der ungefähr in Matthews Alter war und dessen gepflegte Haare und feine Kleidung in merkwürdigem Gegensatz zu seinem mürrischen Gesichtsausdruck standen.
Sherlock brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es tatsächlich Matty war.
»Kein Wort«, warnte Matty sie. »Sagt einfach … nichts.«
Sherlock und Virginia lachten.
Gemeinsam gingen sie in den Speisesaal, um zu Mittag zu essen. Sie waren umgeben von Frauen in türkisblauen Seidenkleidern und Reifröcken, die selbst im Saal ihre Hüte und Handschuhe nicht ablegten, sowie von Männern mit glänzenden Schnurrbärten im Gehrock. Aber abgesehen von einem flüchtigen ersten Blick schenkte ihnen niemand besondere Beachtung. Offensichtlich wurden sie für eine Familie gehalten, die nach London gekommen war, um die Sehenswürdigkeiten zu bestaunen, die die Hauptstadt des wichtigsten Staates der Erde ihren Besuchern bot.
Sherlock hatte Lammkoteletts, die innen noch blutig und somit perfekt zubereitet waren, und mit Kartoffeln und Bohnen serviert wurden. Matty und Amyus Crowe entschieden sich beide für eine Rindfleisch-Nieren-Pastete, während sich die etwas abenteuerlustigere Virginia auf Hühnchen einließ, das mit einer mit Pfefferkörnern und Sahne verfeinerten French Sauce serviert wurde.
Beim Essen erklärte Crowe ihnen, warum sie nach London gekommen waren.
»Ich habe vorher einem Mann telegraphiert, den ich in dieser schönen Stadt kenne«, sagte er zwischen zwei großen Gabelhaufen mit Nierenpastete. »So eine Art Geschäftspartner von mir.«
Sherlock fragte sich kurz, in was für eine Art Geschäft Crowe wohl involviert sein mochte, da er nie zuvor etwas davon berichtet hatte. Aber dann redete Crowe schon wieder weiter.
»Ich habe ihm erzählt, auf welcher Straße der Konvoi nach London kommen würde, und ihn gebeten, die Wagen abzupassen und dann ihren endgültigen Zielort herauszufinden. Ich habe ihm gesagt, in welchem Hotel wir logieren, und gerade hat er ein Telegramm geschickt, um mir mitzuteilen, dass sie die ganzen Kisten in einem Lagerhaus abgeladen haben, das in einem Stadtteil namens Rotherhithe liegt. Und er hat mir genau beschrieben, wie man da hinkommt.«
»Rotherhithe?«, fragte Sherlock.
»Liegt ein paar Meilen flussabwärts. Ein ziemlich unappetitlicher Ort, wo Seeleute zwischen ihren Schiffsreisen ihr Vergnügen suchen und Frachtgüter gelagert werden, bevor man sie auf die Schiffe verlädt. Kein Ort, an dem man sich nach Einbruch der Dunkelheit gerne rumtreiben würde.« Er schüttelte unzufrieden den Kopf. »Normalerweise würde ich es nicht riskieren, dich dahin mitzunehmen. Aber das hier ist zu wichtig. Der Baron führt irgendetwas im Schilde. Etwas so Großes, dass er bereit ist, dafür zu töten. Was er ja auch schon getan hat. Euch zu beseitigen, würde ihm kaum mehr ausmachen, als eine Spinne zu zertreten. Das Problem ist nur: Wir müssen sichergehen, dass es sich bei den Kisten, die auf den Frachtkarren hierhergebracht wurden, auch tatsächlich um die Bienenstöcke handelt, die du in Farnham gesehen hast. Und das bedeutet, dass ich dich in Rotherhithe brauche, damit du einen Blick darauf wirfst, Sherlock. Aber ich warne dich: Es könnte gefährlich werden. Sehr gefährlich.«
Sherlock nickte langsam. »Das Risiko gehe ich ein. Ich will rausfinden, was da vor sich geht … und warum er dauernd versucht, mich umzubringen.«
Crowe blickte zu Matty hinüber, der sich mit dem Löffel gerade Erbsen in den Mund schaufelte. »Und du, junger Mann … Ich vermute mal, dass du schon so einige finstere Hafengegenden gesehen hast, in Anbetracht der Tatsache, dass du dein Leben damit verbringst, auf einem kleinen Kahn durch die Welt zu schippern. Und vermutlich weißt du auch, wie du dich bei einem Kampf verhältst.«
»Wenn’s ’nen Kampf gibt«, sagte Matty durch einen Mundvoll Erbsen hindurch, »renn ich. Und wenn das nicht geht, hau ich zu. Tief und hart.«
»Besser hätte ich’s nicht sagen können«, nickte Crowe. »Ich komme natürlich mit euch, aber vielleicht werden wir uns trennen müssen, um verschiedene Stellen im Auge zu behalten.«
»Und was ist mit mir?« Virginias Stimme hatte vor Entrüstung einen schrillen Klang angenommen und ihre violetten Augen blitzten gefährlich. »Was mache ich?«
»Du bleibst hier«, sagte Crowe finster. »Ich weiß, dass du bei einem Gerangel schon alleine klarkommst. Aber du hast keine Ahnung, was einer jungen Frau in Rotherhithe so alles passieren kann. Die Leute, die dort leben, sind schlimmer als Tiere. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passieren würde … nicht nach …« Er brach abrupt ab. Sherlock warf einen Blick zu Virginia hinüber und sah, dass ihre Augen plötzlich feucht schimmerten. »Du bleibst hier«, betonte Crowe noch einmal mit Nachdruck. »Sollten wir getrennt werden, müssen wir die Gewissheit haben, dass hier jemand ist, der Nachrichten entgegennehmen und weiterleiten kann. Und das ist dein Job.«
Virginia nickte wortlos.
Crowe wandte den Blick wieder den beiden Jungen zu. »Wenn ihr fertig seid«, sagte er, »brechen wir auf.«
Als sie das Hotelfoyer durchquerten, drehte sich Sherlock um und blickte zu Virginia zurück. Sie starrte ihn an und versuchte, ein Lächeln zustandezubringen. Aber ihre Lippen verzogen sich, und ihre Miene nahm einen besorgten Ausdruck an. Er lächelte beruhigend zurück, wenngleich er die Vermutung hegte, dass sein eigener Gesichtsausdruck nicht sehr viel überzeugender ausfiel.
Statt eine Droschke nach Rotherhithe zu nehmen, führte Crowe die beiden Jungen zu einer Stelle am Themseufer, wo von glitschigen grünen Algen überzogene Steinstufen zu einer faulig riechenden braunen Wasserbrühe hinabführten. Das gegenüberliegende Ufer war von Rauchschleiern und bräunlichen Ausdünstungen verborgen, die unmittelbar vom Fluss selbst aufzusteigen schienen. Ein Boot dümpelte auf dem Wasser auf und ab. Der Besitzer saß an den Rudern und rauchte eine Pfeife.
»Rotherhithe«, sagte Crowe grimmig und warf dem Mann im Boot eine Münze zu, die dieser geschickt auffing. Er biss in sie hinein, um sicherzugehen, dass sie auch echt war, und nickte dann. Crowe und die Jungen ließen sich am Heck nieder, während der mit dem Rücken zum Bug sitzende Bootsführer in Aktion trat und das Boot mit kräftigen Ruderschlägen durchs Wasser vorantrieb.
Auf Sherlock wirkte die Reise ziemlich merkwürdig und beunruhigend. Auf dem Boden des Bootes schwappte eine große dreckige Wasserlache, und im Fluss trieben Dinge herum, die er sich lieber gar nicht so genau ansehen wollte: menschlicher Unrat, Müll, tote Ratten und durchweichte, von zerfetzten Grasbüscheln umhüllte Holzstücke. Der Geruch war dermaßen ekelerregend, dass Sherlock durch den Mund atmen musste. Doch der Gestank legte sich wie eine Schicht auf Zunge und Rachen, so dass Sherlock am Ende sicher war, ihn buchstäblich schmecken zu können, und er musste würgen. An einer Stelle tauchte ein anderes Boot aus dem Dunst auf und fuhr knapp an ihnen vorbei. Jemand stieß einen Fluch aus, und ihr Bootsführer revanchierte sich mit einer Geste, die Sherlock noch nie zuvor gesehen hatte, aber ohne große Probleme deuten konnte.
Sie brauchten ungefähr zwanzig Minuten für die Fahrt nach Rotherhithe und stiegen schließlich an einer Steintreppe aus, die sich von derjenigen, an der sie eingestiegen waren, fast nicht unterschied. Crowe ging die Stufen voran nach oben.
Am Ufer der Themse zog sich ein schmaler, mit rauen Steinen gepflasterter Weg entlang, der in beiden Richtungen in einer Kurve von ihnen fortführte. Matty und Sherlock folgten Crowe auf dem holprigen Steinpflaster am Rand des übel stinkenden Flusses entlang. Sie kamen an hoch aufragenden Lagerhäusern und Ziegelsteinmauern vorbei und hielten sich, wo immer es möglich war, im Schatten. Nach etwa zehn Minuten blieb Crowe stehen. Ihnen gegenüber befand sich eine jener allgegenwärtigen Tavernen, wie man sie überall in der Hauptstadt antreffen konnte. Das Geklimpere eines schlecht gestimmten Klaviers drang durch Türen und Fenster nach draußen, begleitet von einem größtenteils asynchronen Grölgesang. In einem Türeingang standen mehrere Frauen herum und beäugten Amyus Crowe mit offensichtlichem Interesse, ehe sie sich dann unversehens abwandten, als sie Sherlock und Matty entdeckten.