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»Ich glaube, das Lagerhaus ist gleich hier um die Ecke«, murmelte Crowe. Aufmerksam sondierte er die Umgebung, um nach möglichen Bedrohungen Ausschau zu halten. »Ich schlage vor, wir machen es uns hier eine Weile gemütlich und beobachten die Lage.«

»Was ist, wenn man uns sieht?«, fragte Sherlock.

»Zuhause in Albuquerque war ich Jäger«, sagte Crowe. »Habe einige der gefährlichsten Bestien verfolgt. Es gibt ein paar Dinge, die man tun kann, um die Chancen, entdeckt zu werden, zu minimieren. Zunächst einmaclass="underline" Meide jeden direkten Augenkontakt. Denn Augen nehmen alle Tiere praktisch auf der Stelle wahr. Beobachte die Dinge aus den Augenwinkeln. Dadurch ist die Wahrnehmung sogar noch effektiver, als wenn man ein Objekt direkt fixieren würde. Auch wenn sich Farben dabei nicht allzu gut unterscheiden lassen. Wenn es irgend geht, rühr dich nicht von der Stelle. Das Auge ist nämlich in erster Linie darauf ausgelegt, Bewegungen wahrzunehmen und keine Dinge, die starr an einem Fleck verharren. Trage unauffällige und eintönige Kleidung, die keine Farben aufweist, die man in der natürlichen Umgebung nicht finden würde: Nimm zum Beispiel Grau für Stein und Fels, Grün für Moose und Gräser und Braun für Erde.

Und trage nichts Metallisches, weil Metalle in der Natur nicht in großen Mengen vorkommen. Wenn du dich an diese Regeln hältst, kannst du dich vor eine Ziegelmauer stellen, und die Leute, die an dir vorbeigehen, werden ihre Augen nur kurz über dich gleiten lassen, bis sie etwas Interessanteres gefunden haben.«

»Das klingt wie Zauberei«, meinte Sherlock skeptisch.

»Das tun die meisten Dinge, solange du nicht weißt, wie sie funktionieren.« Er musterte die beiden Jungen prüfend. »Diese Schnitte in deinem Gesicht da, Sherlock, werden dir prima helfen, dich optisch hier einzufügen. Aber für diese Gegend seht ihr beide noch ein bisschen zu sehr wie aus dem Ei gepellt aus. Ich muss euch noch etwas Schmutz verpassen.« Er blickte sich um. »Okay, ich will, dass ihr euch eine Weile auf den Pflastersteinen herumwälzt. Damit ihr etwas Dreck auf eure Klamotten bekommt.«

»Wäre das nicht zu auffällig?«, fragte Sherlock.

»Nicht wenn ihr einen Grund dafür habt«, erklärte Crowe. »Matty, stoß dem jungen Sherlock hier mal gegen die Brust.«

»Was?«, erwiderte Matty.

»Tu ’s einfach. Und Sherlock, du verpasst ihm gleich darauf einen Faustschlag gegen die Schulter.«

Sherlock dämmerte allmählich, worauf Crowe hinauswollte. »Und am Ende wälzen wir uns raufend im Dreck, was dazu beiträgt, dass sich unsere Kleidung an die Umgebung anpasst und wir durch unser Verhalten zu einem Teil der Umgebung werden. Denn wenn wir keine Einheimischen wären, würden wir uns auch nicht auf der Straße prügeln.«

»Exakt«, sagte Crowe anerkennend.

Sherlock wollte gerade fragen, wie lange sie miteinander kämpfen sollten, als Matty ihm einen harten Stoß gegen die Brust verpasste. »Ich hab dich gewarnt, du Drecksack!«, schrie er.

Sherlock unterdrückte das spontane Verlangen, seinem Freund einen Faustschlag ans Kinn zu verpassen, sondern landete stattdessen einen Treffer an Mattys Schulter. »Wie kannst du es wagen«, brüllte er und konnte eine leichte Verlegenheit nicht unterdrücken.

Matty wiederum drang auf Sherlock ein und drückte ihn zu Boden. Innerhalb kürzester Zeit wälzten sich die beiden so heftig auf dem Boden, dass Staubwolken um sie herum aufstoben. Sherlock bekam Mattys Arm zu fassen, aber Mattys Finger krallten sich in Sherlocks Haare und Sherlocks Kopf wurde schmerzhaft nach hinten gerissen.

Sherlock war kurz davor zu vergessen, dass es sich eigentlich um einen Scheinkampf handelte, als Amyus Crowe Sherlock und Matty mit seinen mächtigen Händen an den Schultern packte und hochriss. »In Ordnung, ihr beiden. Hört auf damit«, befahl er mit seiner »englischen«, doch diesmal mürrischer klingenden Stimme.

Die beiden standen sich gegenüber und hatten trotz ihrer gefährlichen Situation Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Sherlock blickte an sich herab. Seine Jacke war am Ärmel eingerissen, und überall war er mit Staub, Pferdehaaren und allerlei Dreck bedeckt, über dessen Herkunft er sich lieber gar nicht erst Gedanken machen wollte.

»Keine Bange«, sagte Crowe. »Das lässt sich waschen. Und wenn’s nicht rausgeht, kaufen wir einfach neue Kleidung. Sachen kann man immer ersetzen. Ein guter Jäger weiß, dass alles Materielle bei der Verfolgung der Beute geopfert werden kann.«

»Was für Tiere haben Sie denn so gejagt?«, wollte Matty wissen.

»Hab nicht gesagt, dass es Tiere waren«, murmelte Crowe.

Bevor einer der beiden ihn fragen konnte, was es mit dieser Aussage auf sich hatte, ging er weiter. Sherlock und Matty folgten und tauschten verwunderte Blicke aus.

Schließlich blieb Crowe an einer Ecke stehen und lugte vorsichtig herum. »Das Lagerhaus ist da drüben«, sagte er leise. »Sherlock, du bleibst hier. Kauer dich hier hin und tu so, als ob du dir einfach nur die Zeit vertreibst. Spiel mit irgendwas herum, vielleicht mit ein paar Steinen, wenn du welche findest. Denk dran: Meide jeden Augenkontakt, aber beobachte aus den Augenwinkeln, was um dich herum vor sich geht. Matty, du kommst mit mir. Du kannst die Rückseite im Auge behalten, und ich werde zwischen euch hin- und herpendeln.«

»Wonach halten wir Ausschau?«, fragte Sherlock.

»Nach allem, was aus der Reihe fällt. Nach irgendetwas, das uns vielleicht Aufschluss darüber geben kann, was hier vor sich geht.«

Crowe legte Matty die Hand auf die Schulter und dann machten sie sich auf den Weg. Sherlock befolgte die Anweisungen, indem er sich hinhockte und einen der kleinen Pflastersteine aus dem Dreck klaubte. Er ließ den Stein vor- und zurückkullern. Ein ziemlich stupides und langweiliges Spiel, aber es reichte, um ihn als natürlichen Teil der Szenerie wirken zu lassen. Und wie sich herausstellte, konnte er, während er demonstrativ so vor sich hinspielte, tatsächlich noch aus den Augenwinkeln sehen, was um ihn herum geschah.

Die Frontseite des aus Backsteinen errichteten Lagerhauses wurde fast komplett von einem großen Holztor eingenommen, dessen zwei Flügel so aufgehängt waren, dass sie sich nach außen zur Straße hin öffneten. Nichts an dem Gebäude war eindeutig verdächtig, und Sherlock fragte sich, ob sie auch wirklich die richtige Stelle beobachteten oder einfach nur ein zufällig ausgesuchtes Gebäude.

Nach einer Weile, die ihm wie Stunden vorgekommen war, kam Amyus Crowe wieder zurückgeschlendert. Vermutlich jedoch war gerade erst eine halbe Stunde vergangen.

Obwohl er noch dieselben Sachen trug wie zuvor und diese nicht so eindrucksvoll beschmutzt hatte wie Sherlock und Matty, sah er ziemlich zerzaust aus. Sein Jackett war schräg zugeknöpft, was seiner Haltung irgendwie eine schiefe Erscheinung verlieh, und das Hemd hing ihm aus der Hose. Er schwankte leicht und starrte die ganze Zeit konzentriert auf den Boden unmittelbar vor seinen Füßen. Er blieb in Sherlocks Nähe stehen und ließ sich gegen die Wand fallen.

»Alles klar?«, murmelte er.

»Hier ist nichts passiert«, erwiderte Sherlock ebenso leise.

»Bist du okay?«

»Mir ist langweilig.«

Crowe kicherte. »Willkommen auf der Jagd. Lange Phasen der Langeweile, unterbrochen von Momenten des Hochgefühls und der Todesangst.« Er schwieg einen Moment und sprach dann weiter. »Ich denke, ich mach mal einen kleinen Bummel in die Taverne dort und schau mal, was da drinnen so geredet wird.«