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»Gut. Dann könnten Sie mir doch ein Glas Wasser rausbringen lassen, oder?«

»Junge, vermutlich bist du besser dran, wenn du Wasser aus der Themse statt aus der Taverne trinkst. Wenn du Hunger oder Durst hast, dann nimm es einfach zur Kenntnis, hake es ab und halte dich nicht mehr damit auf. Ein Mensch kann es drei bis vier Tage ohne Wasser aushalten. Halte dir das einfach ständig vor Augen.«

»Sie haben leicht reden.«

Crowe lachte.

»Kann ich Sie etwas fragen?«, sagte Sherlock, im Bestreben, Crowe noch ein wenig zum Dableiben zu bewegen.

»Sicher.«

»Was machen Sie in England? Und was ist das für ein Geschäft, das Sie vorhin erwähnt haben?«

Crowe lächelte freudlos. Er sah fort und mied Sherlocks Blick. »Ich bin jedenfalls kein Tutor, soviel ist mal sicher«, sagte er mit sanfter Stimme. »Auch wenn sich das allmählich zu einem immer interessanteren Zeitvertreib entwickelt. Nein, ich bin – nun ja, sagen wir mal von der amerikanischen Regierung, um es leichter zu machen – angeheuert worden, um Männer aufzuspüren, die während des Bürgerkrieges die entsetzlichsten Gräueltaten begangen haben und ins Ausland fliehen konnten, bevor die amerikanische Justiz sie ergreifen konnte. So ist es auch gekommen, dass ich deinen Bruder kennengelernt habe: Er hat nämlich den Vertrag unterzeichnet, der es mir gestattet, hier zu sein. Und deswegen habe ich mir auch ein Netz von nützlichen Leuten aufgebaut, vor allem in den Docks und in den Häfen. Als du mir also erzählt hast, dass der Baron seinen Plan – um welchen auch immer es sich handeln mag – mit größerem Tempo vorantreiben wollte, habe ich einfach meine Leute benachrichtigt, dass sie nach den Frachtkarren des Barons Ausschau halten sollen. Und wie ich zugeben muss, war ich überrascht, dass sie sie so leicht aufgespürt haben.« Er blickte wieder Sherlock an. »Zufrieden?«

Sherlock nickte.

»Das habe ich nicht vielen Leuten erzählt«, fügte Crowe hinzu. »Wäre dir dankbar, wenn du es für dich behalten würdest.« Dann machte er sich wieder davon, noch bevor Sherlock etwas sagen konnte.

Sherlock widmete sich weiter seinem Spiel und rollte den Pflasterstein unermüdlich vor und zurück, während eine Minute nach der anderen verstrich. Er behielt das Lagerhaustor permanent im Auge, aber es blieb fest verschlossen und nichts rührte sich.

Plötzlich erhob sich irgendwo hinter ihm ein wilder Radau, und fast hätte er sich umgedreht, um nachzusehen. Aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig davon abhalten. Er ließ den Pflasterstein ein wenig weiter wegkullern. Als er ihn zurückholte und sich schließlich wieder umdrehte, ließ er seine Augen zur Seite gleiten, wodurch er einen Blick auf die Taverne werfen konnte. Eine Tür stand offen und eine Gruppe offensichtlich stark angetrunkener Männer kam auf die Straße hinausgetorkelt. Sie scherzten derbe miteinander, wandten sich dann in seine Richtung und kamen auf ihn zu. Er konzentrierte sich auf seinen Stein und lauschte angestrengt, ob einer von ihnen etwas über das Lagerhaus, die Bienenstöcke, Baron Maupertuis oder sonst irgendetwas sagte, das mit den rätselhaften Vorgängen in Verbindung stand.

»Wann ziehen wir ab?«, fragte einer von ihnen.

»Beim ersten Tageslicht, gleich morgen früh«, antwortete ein anderer. Etwas an der Stimme kam Sherlock bekannt vor, aber er konnte sie einfach nicht einordnen.

»Wer hat den Einsatzplan?«, fragte eine dritte Stimme.

»Den hab ich im Kopf«, erwiderte der zweite Mann. »Du machst dich nach Ripon auf. Snagger geht nach Colchester. Jungspund Nichelson hier macht ’ne Spritztour nach Woolwich, und ich muss zurück nach Aldershot.«

»Kann ich nicht lieber nach Aldershot?«, fragte eine Stimme mit nördlichem Akzent – vermutlich besagter Jungspund Nichelson.

»Du gehst dahin, wohin man es dir sagt, Sonnenschein«, erwiderte der zweite Mann. Beim Sprechen kam er dicht an Sherlock vorbei. Sein Fuß stieß gegen Sherlocks Pflasterstein und beförderte diesen ein Stück die Straße hinunter.

Ohne es zu wollen, sah Sherlock auf … und blickte dem Mann genau in die Augen.

Es war Denny: der Mann, dem Sherlock zum Lagerhaus in Farnham gefolgt war, der Mann, der dabei gewesen war, als sein Freund Clem auf das Boot gesprungen war, um Sherlock und Matty anzugreifen. Der Mann, der für Baron Maupertuis arbeitete.

So viel zum Thema Unsichtbarkeit. Dennys Gesicht wurde augenblicklich rot vor Wut.

Hände griffen nach Sherlock. Er rollte sich rasch zur Seite, sprang auf die Beine und rannte auf dem Pflasterweg davon. Eigentlich hatte er auf die Taverne zulaufen wollen, in der sich Amyus Crowe befand, aber die Männer standen zwischen ihm und der Tavernentür. Stattdessen rannte er also immer weiter weg … fort von Crowe, fort von Matty und von allem, was er von der Gegend kannte.

Hinter ihm wirbelten dröhnende Schritte über das Pflaster. Gespenstisch hallte ihr Echo von den Häuserwänden wider, an denen er vorbeiflitzte. Ihm brannte der Atem in der Kehle, und sein Herz hämmerte wie ein lebendes Wesen, das man in seinem Brustkorb eingesperrt hatte und sich nun mit aller Macht befreien wollte. Zweimal spürte er, wie Finger seinen Nacken streiften und hastig nach seinem Kragen griffen, und zweimal musste er sich in einer verzweifelten Kraftanstrengung losreißen. Abgesehen von Sherlocks pochendem Herzen, den unterdrückten Flüchen, die seine Verfolger beim Laufen ausstießen, sowie dem Dröhnen ihrer Stiefel verlief die Hetzjagd in absoluter Stille.

Als er ein gutes Stück weiter gerannt war, erkannte er plötzlich, dass der Weg vor ihm abrupt in einer Ziegelsteinmauer endete. Entsetzt riss Sherlock die Augen auf.

Er saß in der Falle! Er drehte sich um und versuchte fieberhaft abzuschätzen, ob er noch genug Zeit haben würde, um zurückzurennen und einen anderen Weg zu finden. Aber die Männer kamen schnell näher. Insgesamt hatte er es mit fünf Kerlen zu tun, wie er in einer merkwürdigen Mischung aus Angst und Gelassenheit feststellte, die plötzlich Besitz von ihm ergriffen hatte. Und alle hielten entweder Messer oder schwere Stöcke in den Händen. Er würde niemals lebend hier rauskommen.

Plötzlich konnte er eine deutlich vernehmbare Stimme in seinem Kopf hören. Er hätte trotzdem nicht sagen können, ob sie seinem Bruder, Amyus Crowe oder ihm selbst gehörte, aber auf jeden Fall sagte sie: »Wege und Straßen führen von einem Ort zum anderen. Ein Weg, der einfach in einer Mauer endet, ist nicht logisch. Er erfüllt keinen Zweck und wäre somit auch gar nicht erst gebaut worden.«

Sherlock wirbelte herum und ließ den Blick über die Ziegelsteinmauer gleiten. Keine Türen, keine Fenster. Nichts außer einem großen Schattenfleck in der Ecke, dort, wohin das matte Sonnenlicht nicht vordringen konnte.

Wenn es einen Ausweg gab, dann müsste er dort sein.

Er rannte in den Schatten hinein. Hätte sich dort nichts befunden, wäre er geradewegs gegen die Ziegelsteine gedonnert und k.o. gegangen. Stattdessen aber stieß er auf einen schmalen Durchgang. Da war sie, seine Fluchtmöglichkeit!

Der enge finstere Gang führte zwischen zwei Gebäuden entlang. Er rannte weiter und hörte plötzlich frustrierte Rufe hinter sich, als seine Verfolger auf der Suche nach dem Durchgang kurzzeitig orientierungslos im Schatten umhertappten. Dann kamen sie einer nach dem anderen hinter ihm in den Gang gestolpert, und Sherlock hörte ihre ächzenden Atemzüge von den hohen Mauerwänden widerhallen.

Mal an die linke, dann wieder an die rechte Wand stoßend, stürmte Sherlock im Zickzack weiter durch den dunklen Gang voran, bis er schließlich auf eine breite Straße hinausstürzte, die auf beiden Seiten von Häusern gesäumt war. Die dröhnenden Stiefeltritte seiner Verfolger in den Ohren rannte er ein Stück geradeaus, bevor er plötzlich aus vollem Lauf schlitternd in einen kleinen Weg nach links einbog. Schon hatte er wieder ein paar Meter Vorsprung gewonnen.