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Doch im nächsten Augenblick kam ein Hund aus einer Maueröffnung auf ihn zugeschossen. Allerdings war Sherlock schon vorbei, als die Zähne des Hundes hinter ihm laut in die leere Luft schnappten und das rasende Tier sich gleich darauf auf die Männer stürzte, die hinter ihm her waren. Sherlock hörte wütendes Gebell und heftiges Gefluche, als seine Verfolger dem Hund auszuweichen versuchten. Dann vernahm er, wie ein Stiefel mit dumpfem Ton auf etwas Weiches traf – ein Übelkeit erregendes Geräusch, bei dem Sherlock unwillkürlich zusammenzuckte. Der Hund jaulte laut auf und krabbelte winselnd davon.

Als Sherlock gleich darauf mit Höchstgeschwindigkeit wieder um eine Ecke flitzte, rannte er mit voller Wucht in einen Mann und eine Frau hinein, die anscheinend gerade am Ufer der Themse einen Spaziergang machten. Während Sherlock bloß etwas nach hinten taumelte, schlug der Mann der Länge nach hin.

»Du elender kleiner Dreckskerl«, schrie der Mann, als er sich wieder auf die Beine hievte. »Ich zieh dir die Hammelbeine lang!« Er schob sich die Ärmel seiner Jacke hoch und entblößte muskelbepackte Unterarme, die mit blauen Anker- und Meerjungfrauen-Tattoos überzogen waren.

»Tu ihm nichts, Bill. Er hat’s nicht mit Absicht gemacht!« Die Frau klammerte sich an den Arm ihres Begleiters. Ihre bleiche Haut war übertrieben geschminkt. Ihre Lippen sahen aus wie ein blutiger Schlitz, und ihre Augenlider waren mit schwarzem Puder schattiert, was ihr Gesicht im Endergebnis wie einen Totenkopf aussehen ließ. »Er ist doch nur ein Kind.«

»Ich dachte, er wär ’n Dieb«, knurrte der Mann noch einmal, diesmal allerdings schon weniger aggressiv.

»Hinter mir sind Männer her«, stieß Sherlock zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Ich brauche Hilfe.«

»Du weißt, was sie in dieser Gegend mit kleinen Jungen alles anstellen«, sagte die Frau. »Das würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen. Tu was, Bill. Hilf dem Jungen.«

»Stell dich hinter mich«, sagte Bill. Da die Ärmel ohnehin schon einmal hochgekrempelt waren, schien er große Lust auf einen Kampf zu haben, und offensichtlich zerbrach er sich auch nicht allzu sehr den Kopf darüber, mit wem er es gleich zu tun bekommen würde.

Sherlock schlüpfte hinter den massigen Körper des Mannes, als seine Verfolger auch schon um die Ecke kamen.

»Bleibt, wo ihr seid«, sagte Bill mit tiefer Stimme, die vor Gewaltbereitschaft nur so triefte. »Lasst das Kind in Ruhe.«

»Keine Chance«, erwiderte Denny, der an der Spitze der fünf Männer stand. Er brachte seine Hand in die Höhe, in der er ein Messer hielt. Das Licht der Nachmittagssonne perlte wie eine glühende Flüssigkeit auf dem scharfen Grat der Klinge entlang. »Der gehört uns.«

Bill langte nach dem Messer, doch Denny warf es von seiner rechten in die linke Hand und stieß es dann in einer raschen Vorwärtsbewegung in Bills Brust. Der Mann fiel auf die Knie, spuckte Blut und starrte mit ungläubigem Gesichtsausdruck vor sich hin. Fast sah es so aus, als könnte er nicht akzeptieren, dass diese Sekunden hier im Straßendreck seine letzten auf Erden sein sollten.

Lächelnd musterte Denny Sherlock, als Bill nach vorne auf das Pflaster krachte. »Bei dir«, versprach er, »wird’s nicht so schnell gehen.«

13

Sherlocks gesamter Körper schien vor Entsetzen und Fassungslosigkeit zunächst wie gelähmt zu sein. Doch dann wurde er von glühend heißer Wut gepackt. Er trat auf Denny zu und rammte ihm mit voller Wucht die Faust in den Unterleib. Verzweifelt nach Luft japsend, klappte der Schurke zusammen. Als sein Gegner zu Boden ging, wich Sherlock etwas zurück und trat ihm gegen den Unterkiefer. Etwas knackte. Der Mann schrie aus weit aufgerissenem Mund, mit einer grotesk verbogenen Kinnlade, die plötzlich wie eingerastet zu sein schien.

Die Frau – Bills Begleiterin – schrie ebenfalls wie am Spieß. Ihr schrilles Gekreische schnitt wie ein Messer durch die Luft. Fassungslos sahen sich die anderen vier Männer an. Dann bewegten sie sich auf Sherlock zu und streckten ihre schmutzigen Hände nach ihm aus. Alle Einzelheiten dieses schrecklichen Erlebnisses sollten sich unauslöschlich in Sherlocks Gedächtnis einbrennen: der Dreck unter ihren Fingernägeln, die Haare auf den Handrücken, die sich auf dem Boden ausbreitende Blutlache, das Gekreische der Frau und Dennys Schreie, die sich zu einem einzigen Schreckenslaut der Qual vereinten. Die Welt um ihn herum schien sich zu verlangsamen und schließlich zu erstarren, um gleich darauf in unzählige Teile zu zerspringen. Mit trockenem Mund wandte er sich der Frau zu. »Es tut mir so leid«, brachte er hervor.

Dann nahm er wieder die Beine in die Hand. Zwei der Männer folgten ihm, wohingegen die anderen bei Denny zurückblieben, der neben Bill auf dem Straßenpflaster zusammengebrochen war. Die Frau stand einfach nur da und blickte auf die beiden hinab, während ihr Gekreische nach und nach zu einem erstickten Schluchzen verebbte.

Als Sherlock um eine Ecke bog, sah er ein riesiges kuppelförmiges Gebäude vor sich. So wie es inmitten eines ansonsten unbebauten und mit Büschen und Bäumen bepflanzten freien Geländes stand, wirkte es irgendwie ganz und gar fehl am Platz. Mehrere Straßen – keine schmalen Wege diesmal, sondern richtige, breite Straßen – führten von dem Gebäude fort, das von einem unablässigen Wirrwarr aus Menschen und Pferden umschwärmt wurde. Weiter hinten konnte Sherlock eine Steinmauer erkennen und dahinter wiederum das graue, aufgewühlte Wasser der Themse.

Sherlock rannte auf das Gewimmel zu. Wo Leute waren, war er wahrscheinlich auch in Sicherheit.

Obwohl er in vollem Lauf immer wieder gut gekleidete Herren und Damen umkurven und sich einmal sogar unter einer Kutschendeichsel hindurchducken musste, hielt er unbeirrt auf das Gebäude zu. Als er näherkam, sah er, dass die Fassade mit Statuen und Fliesenmosaiken verziert war. Dann nahm er eine riesige Öffnung wahr, die sich dunkel und bedrohlich vor ihm auftat. Das musste der Eingang sein! Er änderte leicht die Richtung und steuerte direkt darauf zu. Laute Flüche und Schreie hinter ihm zeigten an, dass seine Verfolger noch nicht aufgegeben hatten.

Der Eingang führte in eine runde Halle. Erleuchtet wurde der weite Raum von hellem Sonnenlicht, das durch unzählige in der Kuppel eingelassene bunte Glasfenster fiel. Das Licht verlieh dem Ort eine zirkushafte, clowneske Atmosphäre. In der Hallenmitte befand sich ein großes Loch im Boden, das von einer Galerie umgeben war. Dicht aneinandergereiht standen dort jede Menge Menschen, die auf irgendetwas hinabstarrten. Auf einer Seite schraubte sich am Rand des Loches eine breite Steintreppe in weiten Spiralen in die Tiefe der Erde hinab.

Sherlock stürzte darauf zu und schob sich, so schnell es ging, durch die dichte Menschenmenge. Als er den Anfang der Treppe erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um und sah, wie zwei seiner Verfolger sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Einer von ihnen war ein glatzköpfiger Kerl mit deformierten Ohren und einer ebensolchen Nase, was den kleinen Bereich in Sherlocks Hirn, der sich gerade nicht verzweifelt mit potentiellen Fluchtmöglichkeiten beschäftigte, zu der Vermutung gelangen ließ, dass es sich um einen Boxer handeln könnte. Der andere war ein klapperdürrer Mann mit scharfen Wangenknochen und spitzem Kinn. Sie waren offensichtlich ganz versessen darauf, ihn zu fangen – koste es, was es wolle. Bevor er Denny den Unterkiefer gebrochen hatte, hätten sie vielleicht aufgegeben, aber jetzt waren sie von einem Ziel getrieben. Einer von ihnen war bis auf die Knochen blamiert worden, und Sherlock würde dafür büßen müssen.

Er drehte sich um und machte sich an den Abstieg.

Die Treppe schraubte sich an der Innenwand eines gigantischen Schachtes in die Tiefe. Hin und wieder wurde sie von einer Galerie unterbrochen, die sich horizontal um den Schacht herumzog, bevor die Stufen weiter in den Abgrund hinabführten. Ein Geruch stieg aus dem Schacht empor. Ein Geruch, in dem sich feuchter Dunst, Fäulnis und Moder zu einem einzigen unerträglichen Gestank verbanden, der Sherlock in der Nase stach und ihm das Wasser in die Augen trieb. Während er immer an der Wand des zylindrischen Schachtes entlang in die Tiefe stapfte, nahmen seine Schritte allmählich einen gleichmäßigen Rhythmus an. Er hatte keine Ahnung, was sich unten auf dem Boden des Schachtes befand. Aber ein kurzer Blick über das Geländer zeigte ihm, was ihn oben erwarten würde. Zwei von Baron Maupertuis’ Männern kamen die Treppe herunter auf ihn zugerannt.